Seit 1998 erscheint alle zwei Jahre der Living Planet Report, eine vom World Wide Fund for Nature (WWF) herausgegebene Inventur der globalen Tierwelt. Die aktuelle 14. Bestandsaufnahme, in der vergangenen Nacht gemeinsam mit der Zoological Society of London veröffentlicht, beruht auf Daten von 32.000 Wirbeltierpopulationen aus 5.230 Arten – auf mehr Daten, als jemals verfügbar waren.

Das deprimierende Ergebnis passt nahtlos zum Abwärtstrend, der sich vom ersten Report an abgezeichnet hat: Die untersuchten Bestände wildlebender Arten sind weltweit im Vergleich zu 1970 um 69 Prozent eingebrochen. Beim letzten Report vor zwei Jahren waren es noch 68 Prozent.

Auch die 14. Ausgabe des Living Planet Report zeigt keine Trendwende: Die weltweiten Wirbeltierpopulationen nehmen rasant ab. Zu den wenigen Arten, bei denen danke intensiver Schutzmaßnahmen Zuwächse verzeichnet werden konnten, zählt der Tiger in Nepal.
Foto: Andy Rouse/ WWF

Zwei Drittel der Bestände sind verschwunden

Zwar spiegelt die prozentuale Veränderung den durchschnittlichen proportionalen Wandel der Größe der Bestände über einen längeren Zeitraum wider, nicht die Anzahl der verlorenen Einzeltiere – und doch könnte man salopp sagen, dass demnach in den vergangenen 50 Jahren etwa zwei Drittel aller Wirbeltiere von der Erde verschwunden sind. Besonders betroffen sind Lateinamerika und die Karibik mit einem dramatischen Einbruch von 94 Prozent. Doch es sind nicht nur Arten- und Populationsschwund an sich, vor allem die hohe Geschwindigkeit, mit der die Fauna auf unserem Planeten verlorengeht, bereitet den Forschenden und Tierschützern Kopfzerbrechen.

Als die Langzeitstudie 1998 erstmals erschien, lag der ermittelte Gesamtrückgang bei Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Fischen für den Zeitraum 1970 bis 1995 "nur" bei 30 Prozent. 2018 stieg dieser Wert auf 60 Prozent. Die Zahlen sprechen für die Forschenden eine klare Sprache: Die Erde steckt mitten im sechsten Massenaussterbeereignis der vergangenen 500 Millionen Jahre. Nach einigen Studien liegt das Tempo, mit dem die Arten gerade verschwinden, beim 100- bis 1.000-Fachen der durchschnittlichen historisch typischen Aussterberate. Das derzeitige Massenaussterben vollzieht sich schneller als alle bekannten früheren Massensterben in der Geschichte der Erde.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Östliche Flachlandgorilla (Gorilla beringei graueri) ist vor allem durch Wilderei bedroht. Sein Bestand im Kahuzi-Biega-Nationalpark in der Demokratischen Republik Kongo ist seit 1994 um etwa 80 Prozent eingebrochen.
Foto: Brent Sirton/ Getty Images/WWF

Klimawandel immer wichtiger

Die Ursachen für das biologische Verkümmern unseres Planeten sind vielfältig. Laut dem WWF-Report zählen die Zerstörung und Übernutzung von Lebensräumen, die Entwaldung, der illegale Wildtierhandel, Überfischung und Wilderei von jeher zu den wichtigsten Treibern der weltweiten Tiersterbens. Mittlerweile spielen die Folgen des Klimawandels jedoch eine immer bedeutendere Rolle. Der "fatale Pingpongeffekt" zwischen Artensterben und Klimakrise steht nun auch erstmals im Fokus des 116 Seiten umfassenden und auf wissenschaftlichen Publikationen fußenden Reports.

"Brennende Regenwälder, aussterbende Arten und immer mehr Monokulturen sorgen dafür, dass weniger CO2 gespeichert werden kann", warnt Georg Scattolin vom WWF. "Wenn wir so weitermachen, verlieren wir im Kampf gegen die Klimakrise die Natur als unsere beste Verbündete, denn Wälder sind nicht nur wichtige Lebensräume für unzählige Arten, sondern auch riesige CO2-Speicher, genau wie Grasländer, Moore und Savannen."

Die Bestände des Gewöhnlichen Delfins (Delphinus delphis) im Ionischen Meer sind zwischen 1995 und 2007 um 90 Prozent zurückgegangen. Grund dafür ist vor allem die Überfischung ihrer Beutetiere.
Foto: Chris Fallows/WWF

Letztlich gefährdet der Mensch mit der Vernichtung der Natur hauptsächlich sich selbst, meinen die Expertinnen und Experten. "Die rücksichtslose Ausbeutung und Zerstörung der Natur schadet nicht nur Wildtieren, sondern raubt uns letztlich die eigenen Lebensgrundlagen. Ernährungssicherheit und Gesundheit von Milliarden Menschen hängen direkt von intakten Ökosystemen ab", sagte Scattolin.

Hoffnungsschimmer

Doch es ist noch nicht alles verloren, mit den geeigneten Maßnahmen ließe sich da und dort noch das Ruder herumreißen, schreiben die Forschenden im Living Planet Report. Am Beispiel des Tigers, dessen Bestände sich in Nepal in zehn Jahren fast verdoppelt haben, oder der Kegelrobbenpopulationen, die in der Ostsee zwischen 2013 und 2019 um 139 Prozent zugelegt haben, lasse sich demonstrieren, dass Natur- und Artenschutzmaßnahmen wirken.

Bei Australiens Koala-Population (Phascolarctos cinereus) ist hauptsächlich die Zerstörung des Lebensraums (etwa durch Buschbrände) für den Rückgang um 50 Prozent seit 2001 verantwortlich.
Foto: Doug Gimesy/ WWF

Doch diese punktuellen Initiativen seien bei weitem nicht genug, weshalb der WWF einen globalen Naturschutzpakt nach Vorbild des Pariser Klimavertrags fordert, den die Politik bei der UN-Biodiversitäts-Konferenz im Dezember in Kanada beschließen soll. Nur ein grundlegender Systemwandel könnte den Raubbau an der Natur wirklich stoppen. "Arten und ihre Lebensräume müssen überall besser geschützt werden", sagte Scattolin.

"Denn auch Europa ist für massive Naturzerstörung in anderen Teilen der Welt verantwortlich. Vor allem Tropenwälder in Lateinamerika werden rücksichtslos abgeholzt, um Futtermittel für den Export nach Europa zu produzieren. Das ist ein wesentlicher Grund für den drastischen Rückgang der untersuchten Wildtierbestände in Südamerika." (tberg, red, 13.10.2022)