21. April 1980: Rosie Ruiz lässt sich als Siegerin des Marathons in Boston feiern, von dem sie tatsächlich nur die letzten 800 Meter absolviert hatte.

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Paul Tarmann beschäftigt sich an der Uni Wien mit Sportethik: "Ohne Regeln gibt es auch keinen Sport."

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Auf die Plätze, fertig, los! Der Sport könnte so einfach sein. Ist er aber nicht. Das Regelwerk wird ausgelotet, die Grenzen überschritten. Es wird getrickst, geschummelt und betrogen. Vergangene Woche zogen sich zwei Sportangler in den USA den Zorn der Konkurrenz zu. Sie hatten Bleikugeln in ihren Fang gestopft. Das Ganze ist kein Spaß, kein Kavaliersdelikt, es geht um fünfstellige Siegprämien. Während einer der Betrogenen einen Fisch aufschneidet und die Gewichte aus dem Inneren holt, hagelt es für die beiden Gauner Beschimpfungen – "What the fuck?" statt "Petri Dank!".

"Die Aussicht auf Geld fördert den Betrug", sagt Paul Tarmann. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Wien und befasst sich unter anderem mit Sportethik. "Eines der Grundprobleme ist die Kommerzialisierung des Spitzensports. The winner takes it all, die hinteren Ränge gehen leer aus. Diese Verteilung ist problematisch. Es werden gewisse Risiken in Kauf genommen, um ganz nach oben zu kommen. Auch das Risiko, bei einem Betrug erwischt zu werden. Wenn man um jeden Preis gewinnen möchte, fördert das Rücksichtslosigkeit."

Der Wille zum Sieg macht auch abseits von Doping erfinderisch. Bei den Olympischen Spielen 1976 manipulierte der Fechter Boris Onishchenko seine Waffe so, dass er selbst den elektronischen Sensor für einen Punktgewinn auslösen konnte. Bei den Paralympics 2000 gewann Spanien souverän Gold im Basketball, Haken an der Sache: Haken an der Sache: Zehn der zwölf Spieler waren gar nicht beeinträchtigt. Und noch einmal Blei: In der Formel-1-Saison 1984 ließ Ken Tyrrell seine Boliden während der Rennen mit Ballast befüllen, um das zulässige Mindestgewicht nicht zu unterschreiten.

Faktor Finanzen

Die Formel 1 hat ein umfassendes Regelwerk, Grauzonen lassen sich kaum vermeiden. Sie werden von den Rennställen gesucht, gefunden und ausgenutzt. Nach monatelanger Buchprüfung hat der Weltverband Fia am Montag verkündet, dass Red Bull Racing als Einziges der zehn Teams 2021 das Kostenlimit überschritten habe. Die Weltmeister reden sich auf teures Catering aus, die Konkurrenz schäumt. Tarmann versteht den Ärger: "Die Organisationen müssen für eine gewisse Chancengleichheit sorgen. Die Finanzen sind ein wesentlicher Faktor."

Der Betrug untergräbt einen fairen Wettkampf, er gefährdet den Sport in seinen Grundwerten. "Wir haben Regeln. Wenn es die nicht gäbe, dann gäbe es den Sport per definitionem nicht. Wenn jeder oder jede das macht, was ihm oder ihr gerade einfällt, dann geht das am Sinn der eigentlichen Auseinandersetzung vorbei", so Tarmann. "Man könnte sagen, wir nehmen dieses oder jenes Dopingmittel hin. Oder wir lassen einen gewissen Grad an Trickserei zu. Mit dem Hintergedanken, dass es ohnehin alle tun. Aber das ist dann eben nicht mehr der Sport, wie wir ihn eigentlich kennen und schätzen."

Aber tun es alle? Wie verbreitet ist der Betrug? In der Causa rund um Schachgroßmeister Hans Niemann veröffentlichte Chess.com einen besorgniserregenden Bericht. Demnach seien bereits hunderte Titelträger, dutzende Großmeister und vier Top-100-Spieler von der Plattform gesperrt worden. Von den unzähligen Hobbysportlern gar nicht zu reden. Oft geht es gar nicht ums große Geld. Tarmann: "Spieler stoßen an Grenzen und können das nicht akzeptieren. Man will in der Community gut dastehen. Natürlich macht ein unfairer Sieg nicht denselben Spaß. Aber an diesem Punkt steht der Spaß im Hintergrund."

Der Sport ist ein endloser Hürdenlauf. "Er zeichnet sich dadurch aus, dass man Hindernisse freiwillig überwindet. Eines dieser Hindernisse ist der Gegner. Der Betrug ist der leichte Weg. Es ist nicht notwendig, einen Marathon zu laufen. Man könnte mit dem Motorrad viel schneller sein. Man könnte auch das Taxi nehmen." Best-Practice-Beispiel: Rosie Ruiz erzielte Ende der Siebzigerjahre Topzeiten bei den Rennen von New York und Boston. In New York nahm sie zwischendurch die U-Bahn, in Boston lief sie überhaupt nur 800 Meter ins Ziel.

Fairness vermitteln

Also wo ansetzen? Tarmann: "Auf der einen Seite muss man den Betrug konsequent verfolgen, auf der anderen Seite muss man eine gewisse Haltung bei Jugendlichen fördern. Eltern, Schulen und Vereine müssen den Wert der Fairness vermitteln. Siegen ja, aber nicht um jeden Preis. Betrug nimmt das Vertrauen, man geht dann immer vom Schlimmsten aus. Im Sport hat sich das Misstrauen durchgesetzt. Wir müssen uns mit dem höheren Ideal konfrontieren: Was ist Sport? Wie wollen wir den Sport sehen? Ich denke, wir kennen die Antwort." (Philip Bauer, 13.10.2022)