Vor genau zehn Jahren ist Felix Baumgartner über der Walker Air Force Base bei Roswell im US-Bundesstaat New Mexico aus einer Druckkapsel gesprungen.

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Baumgartner in der Stratosphäre.

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Baumgartner (53) hält Vorträge und besucht Events wie die Annual Living Legends of Aviation Awards, hier am 20. Jänner 2017 in Beverly Hills.

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Felix Baumgartner schrie und schrie und schrie. Eine gute Stunde lang. Zehn Jahre liegt dieses – wohl auch für ihn, aber ganz gewiss für seinen Gesprächspartner – sehr unangenehme Telefonat jetzt zurück, zehn Jahre und einige Wochen. Vor ganz genau zehn Jahren ist Felix Baumgartner über der Walker Air Force Base bei Roswell im US-Bundesstaat New Mexico aus einer Druckkapsel gestiegen und aus der Stratosphäre gesprungen, in die ihn ein Heliumballon befördert hatte.

Dem Telefonat, das dem Sprung vorausging, war ein Interview mit Baumgartner im Hangar-7 vorausgegangen. Der Extremsportler hatte ausführlich über das Stratos-Projekt und seine Ambition gesprochen und Antworten gegeben, die man so noch nicht von ihm gehört hatte. Etwa eine auf die Frage, welchen Sinn und Zweck es habe, wenn ein fallender Mensch die Schallmauer durchbricht. Da sagte Baumgartner: "Ich mache, was ich mache, natürlich nicht rein zum Nutzen der Menschheit. Ich möchte in erster Linie etwas machen, das noch keiner vor mir gemacht hat. Wir haben dieses Projekt nicht ins Leben gerufen, um der Raumfahrt zu dienen. Das ist ein Nebenprodukt."

Und dann kam, mitten im Gespräch, folgende Passage.

STANDARD: Ist die PR-Maschinerie ein Teil vom Ganzen, oder klammern Sie das aus? Man hat manchmal das Gefühl, die PR ist wichtiger als die Sache an sich.

Baumgartner: Völlig richtig. Genau dagegen habe ich die letzten Jahre angekämpft. Die halten mir bei jedem Test eine Kamera ins Gesicht, ich sage immer, wir müssen erst einmal arbeiten. Wenn eine Kamera dabei ist, ist man abgelenkt. Man überlegt, was man sagen soll, man kann nicht in dieser Natürlichkeit agieren, wie man es ohne Kamera machen würde. Natürlich kostet das Projekt eine gewisse Summe, und wir brauchen die Berichterstattung, damit sich das Investment rechtfertigt. Aber das kann nicht vorrangig sein. Aus dem ersten großen Test wollten sie ein riesiges Medienspektakel machen, ich habe gesagt, das könnt ihr vergessen, wir konzentrieren uns auf den Sprung. Denn wenn der Test nicht perfekt abläuft, haben wir alle kein gutes Gefühl.

STANDARD: Das war also auch eine Managementaufgabe für Sie?

Baumgartner: Ja, klar. Und das ist schwierig, wenn du als Athlet dem Sponsor etwas untersagst.

STANDARD: Mateschitz ist nicht unbedingt berühmt dafür, dass er ein Nein akzeptiert.

Baumgartner: Aber ich habe viel getan für Red Bull, ich bin 22 Jahre lang Red-Bull-Athlet. Ich bin kein junger Skateboarder und kein junger Formel-1-Fahrer, der gehorchen muss. Ich habe meinen eigenen Kopf, bin weder Red-Bull-Angestellter noch Leibeigener. Was meine Sache betrifft, ist keiner mehr Profi als ich. Auch Herr Mateschitz kann nicht einschätzen, ob es gefährlich ist oder nicht. Was meine Sicherheit gefährdet, unterbinde ich. Wenn alles vorbei ist, können wir gerne die Kuh melken. Red Bull hatte schon die grandiose Idee, dass ich beim Hinauffahren den Spruch "Willkommen in meiner Welt – der Welt von Red Bull" einspreche. Sage ich, seid ihr deppert, oder was? Stell dir vor, der Armstrong steigt auf dem Mond aus und sagt diesen Spruch. Wenn einer vor dem Fernseher sitzt und das sieht, ist ihm deine Leistung nichts mehr wert. Lächerlich, so eine Idee. Aber bei mir gibt es kein Kasperltheater.

Auch wegen dieser Passage kam Baumgartner bei der User- und Leserinnenschaft damals gut an, besser als mit allem, was er nach dem Stratos-Sprung noch folgen lassen sollte. Die Leute lobten den Extremsportler dafür, dass er sich kein Blatt vor den Mund genommen hatte. Das Interview erschien am 7. Juli 2012, gleich danach rief Baumgartner an. Flott war klar, dass seine Aussagen Konzern-intern nicht ganz so gut angekommen waren. Doch weder Red Bull noch Felix Baumgartner hatten je danach gefragt, das Interview zu autorisieren.

Das Hauptprodukt war jedenfalls der Werbeeffekt. 50 Millionen Euro soll das Stratos-Projekt gekostet haben, die Werbewirkung, die Red Bull lukrierte, wurde von seriösen Fachleuten mit einer Milliarde Euro beziffert, einige Schätzungen reichten gar in eine Höhe von acht Milliarden Euro. Etwa 200 TV-Sender und Netzwerke berichteten live, darunter Servus TV, ORF 1 und N-TV. Den Youtube-Livestream sahen zu Spitzenzeiten rund acht Millionen Menschen gleichzeitig, auch das war ein Höchstwert. Baumgartner hat, darüber herrschte und herrscht Einigkeit, einen großen Schritt fürs Marketing gesetzt.

Drei Weltrekorde

Drei Leistungen wurden beim Weltluftsportverband (FAI) als Weltrekord eingereicht: Der Absprung aus 38.969,4 Metern war der bis dahin höchste mit Fallschirm, diesen Rekord hatte seit 1960 mit 31.333 Metern der US-Amerikaner Joseph Kittinger gehalten. Auch Baumgartner sollte den Rekord wieder verlieren, am 24. Oktober 2014 sprang der Google-Manager Alan Eustace aus etwa 41.419 Metern, er baumelte ohne Kapsel direkt am Ballon. Zwei Bestmarken hält Baumgartner nach wie vor, den mit 36.402,6 Metern tiefsten freien Fall und den mit 1357,6 km/h größten Speed im freien Fall ohne Stabilisierungsschirm.

Red Bull

Für die Menschheit war der Schritt vergleichsweise klein. Seitens Red Bull wurde oft betont, dass der Sprung der Wissenschaft zahlreiche Aufschlüsse geliefert habe, doch diese Aufschlüsse zu beschreiben, damit tun sich die Beteiligten schwer. Es heißt, dass "Erkenntnisse über die Möglichkeit eines Notausstiegs aus Raumfahrzeugen gewonnen" wurden, dass damit "die Sicherheit zukünftiger Raumfahrer erhöht" worden ist.

Und was ist in den zehn Jahren, die vergingen, aus Felix Baumgartner geworden, der in frühen Basejumpjahren u. a. von den Petronas-Towers in Kuala Lumpur, von der Christus-Statue in Rio de Janeiro und vom Millennium-Tower in Wien gesprungen war? Auf Servus TV sagte er, nach seinem Sprung habe er "medial viermal die Erde umkreist" und "interessante Charaktere kennengelernt" – etwa den Schauspieler Tom Cruise und den Regisseur James Cameron, der per Tauchboot auf den knapp elf Kilometer tief gelegenen Marianengrabengrund sank. Baumgartner fuhr Autorennen, ließ sich zum Akrobatik-Helikopterpiloten ausbilden und wird für Vorträge gebucht. Er ist kinderlos und seit 2014 mit der rumänischen Geschäftsfrau und TV-Moderatorin Mihaela Radulescu Schwartzenberg liiert.

"Meinungsfreiheit"

Viel Aufsehen hat der gebürtige Salzburger, dem 1,1 Millionen Menschen auf Facebook folgen, in diesen zehn Jahren mit umstrittenen Äußerungen und politischen Statements erregt. Er stritt mit dem österreichischen Fiskus, zog in die Schweiz, stellte sich eine "gemäßigte Diktatur" vor, forderte den Friedensnobelpreis für Viktor Orbán, beschimpfte den Satiriker Jan Böhmermann, ging die Journalistin Corinna Milborn sexistisch an, lehnte aber ihre Einladung zu einer direkten TV-Konfrontation ab. Er unterstützte den FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer und äußerte sich positiv über die Identitären. "Wir leben in einer Demokratie", sagte Baumgartner auf Servus TV, da herrsche "Meinungsfreiheit". Und er habe "viele getroffen", die ihn als einen sehen, "der sagt, was Sache ist".

Mit dem STANDARD, das der Vollständigkeit halber, wollte Felix Baumgartner dieser Tage nicht reden. Er erinnere sich an eine "gute redaktionelle Zusammenarbeit", schrieb die ihn betreuende Agentur WWP, aber auch an das Interview, bei dem er vor zehn Jahren und einigen Wochen "etwas ‚offline‘ gesagt hat", das er dann doch "in der Zeitung lesen musste". (Fritz Neumann, 14.10.2022)