Schmerz hat seit jeher eine Schutzfunktion: Lebewesen, die Schmerz empfinden, lernen früh, schmerzhafte Situationen zu vermeiden. Wir Menschen besitzen aber inzwischen effektivere Lernmechanismen und sind auf Lernen durch Schmerzerlebnisse nicht mehr angewiesen. Für uns ist Schmerz überwiegend negativ und kann, sofern er sich nicht anders vermeiden lässt, durch Medikamente gedämpft werden.

Schmerz könnte unmittelbare körpereigene Schutzmechanismen auslösen. In Mäusen ließ sich dieser Effekt nun bestätigen.
Foto: imago/Paul Zimmer

Der Einsatz von Medikamenten könnte nun aber für manche Situationen infrage gestellt werden. Mithilfe von Forschungen an Mäusen ließ sich zeigen, dass Schmerz unmittelbar schützende Wirkung haben kann. Die Ergebnisse wurden nun im Fachjournal "Cell" veröffentlicht.

Die Forschenden der Harvard Medical School konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf die Produktion von Schleim in sogenannten Becherzellen, die etwa auch in den menschlichen Atemwegen und im Verdauungstrakt vorhanden sind, um empfindliche Haut vor Abrieb oder Schaden zu schützen. Dabei gelang es ihnen, eine Verbindung zwischen Schmerz und Schleimproduktion nachzuweisen.

Um sicherzugehen, dass der Effekt wirklich auf das Schmerzempfinden zurückzuführen war, verwendeten sie zum Vergleich eine Gruppe von Mäusen, deren Schmerzempfinden genetisch deaktiviert worden war. Es zeigte sich, dass diese Mäuse deutlich weniger schützenden Schleim produzierten. Das erlaubte dem Team zu untersuchen, auf welchem chemischen Weg der Effekt zustande gekommen war. Es gelang, den komplexen Signalweg nachzuvollziehen, den Schmerzneuronen nutzen, um mit den schleimbildenden Becherzellen zu kommunizieren.

Konkret fand das Team heraus, dass ein Rezeptor namens RAMP1 auf der Oberfläche von Becherzellen, der normalerweise über die Ernährung und über Signale von Mikroben aktiviert wird, die Reaktion der Zellen auf die Schmerzneuronen ermöglicht. Dieser Rezeptor reagiert auf chemische Irritationen, Temperaturveränderungen und mechanischen Druck, aber eben auch auf eine Substanz namens CGRP, die von den benachbarten Schmerzneuronen produziert wird. Diese Rezeptoren gibt es auch in menschlichen Becherzellen, was darauf hindeutet, dass die Ergebnisse auf Menschen übertragbar sein dürften.

"Es stellt sich heraus, dass Schmerz uns möglicherweise auf direktere Weise schützt als durch seine klassische Aufgabe, potenzielle Schäden zu erkennen und Signale an das Gehirn zu senden. Unsere Arbeit zeigt, wie schmerzvermittelnde Nerven im Darm mit nahegelegenen Epithelzellen kommunizieren, die den Darm auskleiden", sagt Studienleiter Isaac Chiu.

Auch im gesunden Zustand aktiv

Doch CGRP wird nicht nur bei Schmerz ausgeschüttet. Die Untersuchungen zeigten, dass auch Darmbakterien bei gesunden Mäusen die Ausschüttung der Substanz triggerten.

Becherzellen sind direkt mit den für das Schmerzempfinden verantwortlichen Neuronen verbunden.
Foto: Chiu Lab/Harvard Medical School

"Das zeigt uns, dass diese Nerven nicht nur durch akute Entzündungen, sondern auch unter Normalbedingungen ausgelöst werden", sagt Chiu. "Allein die Anwesenheit normaler Darmmikroben scheint die Nerven zu reizen und die Becherzellen dazu zu bringen, Schleim freizusetzen." Die Mikroben seien so selbst in der Lage, die Produktion von Schleim anzuregen, der sie gesund hält.

Den Forschenden gelang es weiters, die Schleimproduktion auch über die Ernährung zu aktivieren. Dazu fütterten sie die Mäuse mit Capsaicin, des Stoffs, die für die Schärfe von Chilis verantwortlich ist. Der so künstlich herbeigeführte Schmerz äußerte sich bei den Mäusen ebenfalls in der Aktivität der Nervenzellen und der Produktion von Schleim.

Dass Schmerz wirklich mit der körperlichen Gesundheit in Verbindung steht, legte ein Folgeexperiment nahe, im Zuge dessen bei Mäusen entweder das Schmerzempfinden oder der Rezeptor für CGRP entfernt wurde. Das führte zum vermehrten Auftreten von Dickdarmentzündungen. Sobald den Mäusen, denen nur die Schmerzneuronen fehlten, CGRP zugeführt wurde, verbesserte sich deren Zustand. Das deute auf die wesentliche Rolle dieses Botenstoffs hin, betonen die Forschenden: "Schmerz ist also nicht nur ein Symptom bei chronischen Entzündungen, er hat auch eine Schutzfunktion." Mäuse ohne Schmerzrezeptoren hatten zudem schwerere Verläufe beim Auftreten von Dickdarmentzündung.

Folgen für Schmerztherapie

Sofern sich diese Ergebnisse tatsächlich an Menschen bestätigen lassen, könnte das Auswirkungen auf die Schmerztherapie haben. Immerhin wurde ein direkter Zusammenhang zwischen nicht unterdrücktem Schmerz und einem Schutz vor Dickdarmentzündung nachgewiesen. Doch gerade bei Menschen mit Dickdarmentzündung werden starke Schmerzmittel eingesetzt. Auch bei Migräne werden häufig Schmerzmedikamente eingesetzt, die die Produktion von CGRP behindern. Das könnte schädlich für den Darm sein.

"Bei Menschen mit Darmentzündungen ist eines der Hauptsymptome der Schmerz, sodass man meinen könnte, dass wir den Schmerz behandeln und blockieren wollen, um das Leiden zu lindern", sagt Chiu. Ein Teil des Schmerzsignal könnte aber als neuronaler Reflex auch direkte Schutzreaktionen hervorrufen. Es stellt sich laut Chiu die Frage, ob Schmerztherapien angepasst werden müssten, damit dieser erwünschte Effekt nicht verlorengeht. (Reinhard Kleindl, 16.10.2022)