Der deutsche Medienwissenschafter Tobias Hochscherf betont die Bedeutung öffentlich-rechtlicher Sender.

Foto: Andreas Diekoetter

Der Verfassungsgerichtshof entschied im Juni, dass Streaming ohne GIS-Programmentgelt für den ORF verfassungswidrig ist. Die Politik ist jetzt gefordert, das ORF-Gesetz zu reparieren. Wie soll der öffentlich-rechtliche Sender künftig finanziert werden, fragt der STANDARD Medienwissenschafterinnen und Medienwissenschafter. Tobias Hochscherf von der Fachhochschule Kiel hält das GIS-Urteil des Verfassungsgerichtshofs für nachvollziehbar und erklärt, wie sich öffentlich-rechtliche Sender in Deutschland und in anderen Ländern finanzieren.

STANDARD: In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof festgestellt, dass es verfassungswidrig ist, bei der Rundfunkgebühr zwischen der Nutzung von öffentlich-rechtlichen Programmen am TV-Gerät und der via Streaming zu unterscheiden – ist das für Sie nachvollziehbar?

Hochscherf: Aus Sicht der Medienkulturwissenschaften ist das Urteil konsequent und auch nachvollziehbar. Dies liegt daran, dass sich die Bedeutung der Empfangsgeräte für die Mediennutzung grundlegend geändert hat. Früher wurden zeithistorische Ereignisse zuvorderst über bestimmte Empfangsgeräte wahrgenommen – man denke etwa an die Österreichische Unabhängigkeitserklärung 1945 durch das damalige Radio Wien, die erste bemannte Mondlandung 1969 oder die Terroranschläge am 11. September 2001, die die meisten Menschen am Fernsehgerät mitverfolgt hatten. In der Mediengeschichte kann man daher von einer Radio- und Fernsehgesellschaft sprechen, um die herausragende Stellung der beiden Medien und ihrer Nutzung für die Gesellschaft zu beschreiben.

STANDARD: Was sich dann geändert hat?

Hochscherf: Spätestens seit der Einführung des Smartphones und der Etablierung der sogenannten sozialen Netzwerke hat sich das Mediennutzungsverhalten radikal und irreversibel gewandelt. In der Medienkulturwissenschaft wird die aktuelle Phase, in der wir leben, auch als Netzwerkgesellschaft bezeichnet. An die Stelle konkreter Ausspielkanäle und -geräte tritt eine situativ-adaptive Mediennutzung. Dies bedeutet, dass Nutzerinnen und Nutzer – also wir alle – selbst entscheiden, wann, wo, wie und worauf sie digitale Angebote nutzen. Vor diesem Hintergrund ist das Urteil des Verfassungsgerichtshofs nachvollziehbar, weil er die Fokussierung auf bestimmte Empfangsgeräte infrage stellt. Bezahlt wird nicht für das Privileg, ein bestimmtes Gerät zu nutzen, sondern für die Inhalte, die – wo, wann und wie auch immer – zur Verfügung gestellt werden. Man bezahlt also zukünftig für die geräteunabhängigen öffentlich-rechtlichen Medieninhalte.

STANDARD: Kurz zur Einordnung für unsere Leserinnen und Leser: Wie wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland finanziert?

Hochscherf: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde in den meisten Ländern nach dem Vorbild der britischen BBC etabliert. "To inform, to educate and to entertain", mit diesen drei Aufgaben hat der erste Director General der BBC, John Reith, die Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beschrieben. Um diese Aufgaben zu erfüllen, sollte ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem vor Einflussname von Einzelinteressen geschützt und dem Gemeinwohl verpflichtet sein. Dies bedeutet Unabhängigkeit gegenüber politischen oder wirtschaftlichen Partikularinteressen. Um dies zu erreichen, schied eine Finanzierung durch Steuern – wegen der möglichen Einflussnahme durch politische Parteien – ebenso aus wie eine Webefinanzierung – wegen einer etwaigen Abhängigkeit von Unternehmen –, und man wählte eine Gebühren- oder Abgabenfinanzierung. Dies gilt neben Deutschland auch für die meisten anderen Länder mit einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

STANDARD: Wie viel zahlen Haushalte in Deutschland?

Hochscherf: Bereits 2013 wurde in Deutschland eine Rundfunkgebühr, die an den Besitz oder Gebrauch von Geräten gekoppelt war, durch einen geräteunabhängigen Rundfunkbeitrag ersetzt. Trotz vieler kritischer Stimmen und Gerichtsverfahren gilt dieses Verfahren bis heute. Der monatliche Rundfunkbeitrag beträgt aktuell 18,36 Euro.

STANDARD: Und in anderen Ländern?

Hochscherf: In Dänemark hat man zu Beginn des Jahres das Modell der Gebührenfinanzierung durch ein Steuermodell ersetzt, wie man es auch in einigen anderen Ländern kennt. In Großbritannien wird über ein Abo-Modell nachgedacht, wobei sich die BBC dann finanzieren würde wie etwa Netflix, Amazon Prime Video oder Disney+. Ich sehe diese Entwicklung sehr kritisch, da sie die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks potenziell bedroht.

Wahr ist aber auch, dass es neben Fragen des Finanzierungssystems – wer zahlt wie wofür – in vielen Ländern Kritik an der Höhe der Gebühren gibt. Dies gilt auch für Deutschland, wo immer wieder moniert wird, dass das Angebot der öffentlich-rechtlichen Sender mit ihren mehr als 25.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weit über die verfassungsgemäß gesicherte "Grundversorgung" hinausgehe. Aktuell gibt es scharfe Kritik an ausufernden Kosten für ein geplantes digitales Medienhaus des Senders Rundfunk Berlin Brandenburg RBB.

STANDARD: Würden Sie eine derartige Finanzierungsform auch für Österreich vorschlagen?

Hochscherf: Ich glaube nicht, dass es mir zukommt, ein Finanzierungsmodell für Österreich vorzuschlagen. Dies ist Aufgabe der österreichischen Politik und letztendlich abhängig von der breiten Zustimmung der Bevölkerung. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ihnen einen echten Mehrwert bietet und fair finanziert wird, dann wird es auch die notwendige gesellschaftliche Zustimmung in Österreich geben.

STANDARD: Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in einer Haushaltsabgabe? In Österreich gibt es hier häufig Kritik von Menschen, die öffentlich-rechtliches Programm nicht nutzen und dafür auch nicht bezahlen wollen.

Hochscherf: Die Zahl derer, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – also Fernsehen, Radio und Internetangebote – generell nie nutzen, ist sehr viel geringer, als manche glauben machen wollen. Hierzu zählt nämlich auch die eher unbewusste Nutzung etwa der Wetterdienste oder des Verkehrsfunks. Und selbst wenn Menschen das Angebot tatsächlich nicht nutzen, haben sie trotzdem einen Vorteil: Sie können grundsätzlich jederzeit das Angebot wahrnehmen, und sie profitieren auch, indem öffentlich-rechtliche Journalisten allen Entscheidungsträgern kritisch auf die Hände schauen. Die Kontrollfunktion – die neben den privaten Medienhäusern auch von den öffentlich-rechtlichen Redaktionen wahrgenommen wird – hat eine sehr wichtige gesellschaftliche Funktion. Man denke nur daran, wie viele unlautere Machenschaften aufgedeckt wurden.

STANDARD: Wie groß ist die Zustimmung?

Hochscherf: Aber auch neuere Entwicklungen wie in den sozialen Medien bewusst geteilte Falschmeldungen unterstreichen die Bedeutung eines unabhängigen und überparteilichen Journalismus. Und diesbezüglich darf man nicht vergessen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein hohes Renommee genießt. In Deutschland zumindest stimmen ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung den Aussagen zu, der öffentlich-rechtliche Rundfunk biete eine hohe journalistische Qualität und sei wichtig für die politische Meinungsbildung.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk lässt sich nicht als individuelle Dienstleistung für einzelne Bürgerinnen und Bürger beschreiben; er trägt darüber hinaus eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die sich nicht wie ein Abonnement abbestellen lässt.

STANDARD: Ist der politische Einfluss auf öffentlich-rechtliche Sender in unseren Ländern zu groß? Müsste man hier etwas verändern?

Hochscherf: Es gibt immer wieder Versuche der Beeinflussung – aber auch zahlreiche Beispiele, wie sich Sender einer solchen erfolgreich widersetzt haben. Grundsätzlich sollte die herausragende Bedeutung der Parteien, Religionsgemeinschaften und Interessenverbände in den Aufsichtsgremien – Rundfunkräten – immer wieder kritisch hinterfragt werden.

In bestimmten Bereichen können sich andere Länder aber auch am öffentlich-rechtlichen System in Österreich orientieren. Sehr sinnvoll ist beispielsweise die Etablierung von Publikumsräten wie etwa beim ORF. Die stärkere Einbindung des Publikums bei inhaltlichen Fragen ist in Bausch und Bogen zu begrüßen. Nicht so schlüssig erscheint mir vor dem Hintergrund dieser an sich guten Idee, warum von den 36 Publikumsräten nur sechs österreichweit von den Gebührenzahlern gewählt werden. Hat man etwa Angst vor den Entscheidungen der Zuschauenden?

STANDARD: In welcher Form braucht es öffentlich-rechtlichen Rundfunk Ihrer Meinung nach heute?

Hochscherf: Der Programmauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender ist heute so wichtig wie vielleicht nie zuvor, angesichts der Bedrohungen durch Fake News, Meinungsblasen, Auswahlentscheidungen durch KI und Informationskampagnen totalitärer Akteure. Wie auch die private Presse leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag für Demokratie durch Unabhängigkeit und Ausgewogenheit der Programminhalte. Hier ist das Zusammenspiel von privaten Medienhäusern und öffentlich-rechtlichen wichtig. Sie zusammen machen echte Informations- und Meinungsvielfalt aus.

STANDARD: Und sie müssen sich auch weiterentwickeln?

Hochscherf: Trotzdem gilt auch für öffentlich-rechtliche Programme, dass sie sich stets kritisch hinterfragen müssen. Machen sie wirklich ein Programm für alle Menschen? Sind sie offen für andere Meinungen? Die Sender müssen sich zudem auch im Zuge der eingangs angesprochen Netzwerkgesellschaft immer wieder neu ausrichten. So zeigt sich sehr deutlich, dass die fortschreitende Digitalisierung agilere Formen und Prozesse verlangt, die nicht immer kompatibel sind mit den tradierten, meist sehr statischen und hierarchisch-bürokratischen Strukturen der großen Sender. Hier muss sich intern sicherlich einiges ändern.

STANDARD: Was?

Hochscherf: Die öffentlich-rechtlichen Anbieter müssen aber auch nach außen viel dialogbereiter werden und Entscheidungen erläutern. Dies ist keineswegs gefährlich, sondern eine Chance für Teilhabe, Akzeptanz und Bürgernähe. Öffentlich-rechtliche Anbieter benötigen noch stärker als bisher den gegenseitigen Dialog; sie müssen hierfür wesentlich die bevorzugten Kommunikationskanäle und Veranstaltungsformate der jeweiligen Zielgruppen nutzen. Der Austausch muss, will er denn Erfolg haben, ergebnisoffen und transparent sein.

STANDARD: Nutzen Sie persönlich öffentlich-rechtliche Programme?

Hochscherf: Selbstverständlich. Neben den lokalen und überregionalen Radioprogrammen nutze ich sowohl das lineare Fernsehprogramm wie auch die Mediatheken der deutschen öffentlich-rechtlichen Sender. Sehr gerne höre ich das Podcastprogramm des NDR zum Ukraine-Krieg, "Streitkräfte und Strategien". (Astrid Wenz, 18.10.2022)