Auf dem Berg ist man auch mit Fremden per Du. Soll man diese Konvention auch auf niedrigere Höhenlagen ausweiten?

Foto: APA/BARBARA GINDL

Pro

von Philip Pramer

Dass ich nicht der Einzige bin, der sich gegen das "Sie" sträubt, merke ich täglich an den E-Mails, die ich bekomme. Viele hanteln sich von "Sehr geehrter Herr Pramer" über "Lieber Philip Pramer" bis zu "Hi Philip", um die Höflichkeitsform von Mail zu Mail ausschleichen zu lassen. Ein Spiel, bei dem ich gerne mitmache.

Im echten Leben ist das schwieriger. Jeder kennt wohl die peinliche Situation, wenn man jemanden duzt, der eigentlich mit Sie angesprochen werden will ("Respektlos!") oder umgekehrt ("Für wie alt hält mich der?") – fast noch schlimmer.

Noch unangenehmer ist nur die Situation, in der man sich das Du-Wort anbietet – und dabei vielleicht auch noch ungelenk Hände schüttelt und sich mit dem Vornamen vorstellt. Dass das Du-Wort dabei nur von der "höhergestellten" Person angeboten werden darf, zeigt schon, wie absurd hierarchisch die Du-Sie-Konstruktion ist.

Dabei ist die Beziehung, sobald man das Sie hinter sich gelassen hat, stets eine andere: Man fühlt sich erleichtert, auf Augenhöhe, näher. Ein Trick, den sich auch Werbemenschen zunutze machen – allerspätestens seit Ikea seine Kundinnen und Kunden auch im deutschsprachigen Raum konsequent duzt.

Das Heimatland des Möbelhauses hat die Höflichkeitsform schon seit über 50 Jahren abgeschafft. 1967 bot der Chef der schwedischen Gesundheitsbehörde seiner gesamten Belegschaft das Du-Wort an – und ein ganzes Land schloss sich an. Seitdem wird in Schweden nur mehr die Königsfamilie gesiezt.

Das zeigt, dass sich Sprache verändern kann. So wie diskriminierende Ausdrücke langsam aussortiert werden und sich Gendern immer mehr durchsetzt, könnten wir auch das "Sie" beerdigen, wenn wir es wirklich wollen. Wir könnten endlich Klarheit schaffen, wenn wir dem Supermarktkassierer, der Chefin, dem Nachbarn oder der Ministerin ein warmes, direktes Du anbieten. Distanz gab es während Corona genug. Respekt und Höflichkeit lassen sich auch anders ausdrücken als durch das antiquierte "Sie".

Auch in England und Nordamerika, wo es nur ein "you" gibt, regiert nicht Respektlosigkeit. Dafür sagt man den Angloamerikanern nach, besonders kontaktfreudig zu sein. So könnten wir auch sein!

Contra

von Julia Beirer

Auf dem Berg ist jeder per Du. Das hat mir meine Mutter schon in frühester Kindheit erklärt. Und auf dem Berg ist das auch schön und gut. Dort verbringen die Menschen ihre Freizeit, wollen entspannen, die frische Luft sowie die schöne Aussicht genießen, und im Idealfall begegnen sie ohnehin niemandem, mit dem sie sprechen müssen. Ganz anders verhält es sich allerdings im Tal.

Dort schafft das Du ein Naheverhältnis, das in den allermeisten Fällen überhaupt nicht sein muss oder sogar unangenehme Situationen schafft. Dann etwa, wenn die Bürgermeisterin den Lokalredakteur bei der Pressekonferenz mit Vornamen anspricht, der Antragsteller eines Kredits die Bankangestellte etwas zu unförmlich begrüßt; selbst bei der Kassiererin im Lebensmittelgeschäft ums Eck schafft das Duzen – je nachdem, was gerade im Einkaufskorb landet – ungemütliche Nähe. Praktisch ist das Sie im Westen aber nur dann zu hören, wenn mit Gästen gesprochen wird. Ganz im Gegensatz zum Osten Österreichs.

Freundinnen aus der Steiermark erzählen etwa, dass sie teilweise sogar die Herrn und Frauen Nachbarn gesiezt haben. Und der Kellner im Wiener Kaffeehaus mag die Melange unwirsch servieren und sich im angenervten Ton mitunter vergreifen, die Form wahrt er zumindest in der Wahl seiner Worte. Ob das besser ist, sei dahingestellt. Seine generelle Unfreundlichkeit prallt mit dem distanzierten Sie aber definitiv leichter an den Gästen ab. Sein gereizter Umgangston klänge beim Du mehr nach. Er würde persönlicher genommen. Und das ist auch schon der entscheidende Punkt: Das Sie ermöglicht Kommunikation auf ganz anderer Ebene – vor allem, wenn es etwas zu bemängeln gibt.

Bei meinem Vermieter etwa habe ich kein Problem, die seit Wochen nicht mehr schließende Haustür mehrmals mit Nachdruck telefonisch und persönlich zu beanstanden. Wir sind uns einig, wir haben ein vertraglich geregeltes Verhältnis auf Basis unserer Nachnamen. Das gepflegte Sie unterstreicht die Grenzen unserer Beziehung. Mit dem "Du, Herr Vermieter" scheint die Tür zum gemeinsamen Kaffee im gemieteten Wohnzimmer einen Spalt breit geöffnet – und das wäre einen Spalt breit zu viel. Dann läge der Blick zu etwaigen Staubkörnern im Gang oder eventuellen Wäschebergen im Badezimmer frei – das ginge zu weit. Daher gilt der Grundsatz: für dich immer noch Sie. (jube, pp, 15.10.2022)