In der Ukraine droht nach den Raketenangriffen Russlands auf die Energie-Infrastruktur nun ein kalter, dunkler Winter.
Foto: ETA/Atef Safadi

Für das Naturphänomen, das in der Ukraine jetzt vor der Tür steht, kursiert in Russland schon seit dem 19. Jahrhundert ein unter Heerführern aller Herren Länder gefürchteter Begriff: Rasputiza – die Schlammzeit. Nicht nur einmal in der Weltgeschichte sind angreifende Soldaten in den verschlammten Landschaften im Osten Europas buchstäblich versunken; schon oft wurden dort in der Vergangenheit Offensiven durch die weichen, nassen Böden ausgebremst. Zuletzt, im Frühling, war es der russische Vormarsch auf Kiew.

Rasputiza und Väterchen Frost

Fest steht: Keine Rakete, keine Drohne, kein Präsident und auch kein General dürfte in den kommenden Wochen und Monaten einen so durchschlagenden Einfluss auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine haben wie die Witterung. Ein paar Wochen nach Rasputiza übernimmt Väterchen Frost in dem kriegsversehrten Land das Kommando – und verschont seinerseits weder Angreifer noch Verteidiger.

Die Zeit tickt – sowohl für die Ukraine, deren Armee im Spätsommer viel an Boden gutzumachen vermochte, als auch für Russland, das sich nun eilig daranmacht, geraubte Landstriche gegen heranrückende Ukrainer abzusichern. Wer aber profitiert von der sich ändernden Wetterlage in der Ukraine? Und bieten Schlamm und Kälte gar die Chance für eine Atempause?

Kälte als Joker

Im zynischen Kalkül von Russlands Präsident Wladimir Putin, der seit Beginn der Woche gezielt Strom- und Heizkraftwerke bombardieren lässt, kommt der nahende Winter einem Joker gleich: Wenn die Quecksilbersäulen in wenigen Wochen in den Minusbereich sinken, dürfte es der leidgeprüften ukrainischen Zivilbevölkerung umso schwerer fallen, ihre im Westen so bewunderte Resilienz aufrechtzuerhalten. Dann, so hofft der Kreml, könnte die Stunde Russlands schlagen. "Die Russen spekulieren darauf, dass das Leid im Winter so unerträglich wird, dass es zu einem Umbruch oder zumindest zu Verhandlungen kommt", sagt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt dem STANDARD.

Putins Kriegsmaschinerie schafft derweil von der Luft aus weiter brutal Fakten: Ein gutes Drittel der ukrainischen Energieinfrastruktur ist laut Schätzungen durch die Luftangriffe beschädigt oder zerstört worden. Die Bilder, die Lwiws Bürgermeister Andrij Sadowyj am Montag via Twitter um die Welt schickte, könnten ein Vorgeschmack darauf sein, was der Ukraine nun droht: Die pittoreske und von Kämpfen bisher weitgehend verschonte Altstadt versank nach einem Angriff auf die Stromversorgung in Dunkelheit.

Holzöfen gegen die Kälte

Während die ukrainischen Energieversorger nun zu retten versuchen, was von der hart getroffenen Infrastruktur noch zu retten ist, rufen die Behörden die Bevölkerung zur Sparsamkeit auf: "Wir bitten Sie, den Stromverbrauch einzuschränken", schrieb Regierungschef Denys Schmyhal am Dienstag auf Telegram. Abends sollten keine energieintensiven Geräte eingeschaltet werden. Zudem wurde die Durchschnittstemperatur in Privathaushalten auf 17 Grad gesenkt; in Lwiw schafften die Behörden 600 mobile Holzöfen heran, um der Bevölkerung im Fall des Falles auch ohne Strom und Gas Wärme spenden zu können. Der ukrainische Botschafter in Wien bat Österreich am Freitag um Stromaggregate, warme Kleidung und Ausrüstung sowie winterfeste Schlafsäcke. Am Donnerstag meldete der Netzbetreiber Ukrenergo zwar, die Schäden am Stromnetz seien weitgehend behoben – mit neuen Angriffen müsse aber gerechnet werden.

"Was Putin mit den Luftschlägen auch erreichen möchte: dass die ukrainische Wirtschaft noch stärker geschädigt wird als bisher schon, etwa durch eine zu erwartende neue Fluchtbewegung, bei der weitere Arbeitskräfte ins Ausland gezwungen werden", sagt Gerhard Mangott, Innsbrucker Politologe und Russland-Kenner. Damit wolle der Kreml den Druck auf Europa steigern.

Dass Russland ausgerechnet jetzt zuschlägt, da der Energiebedarf kurz vor dem Winter besonders hoch ist, wundert auch Alexander Graef nicht. Der Russland-Experte am Hamburger Institut fu¨r Friedensforschung und Sicherheitspolitik ortet ein "Umdenken" im Kreml, was die Zerstörung ziviler kritischer Infrastruktur in der Ukraine betrifft: "Bisher hat sich Russland da weitgehend zurückgehalten. Putin zieht jetzt aber eine Parallele zwischen der versuchten Zerstörung der Krim-Brücke als Angriff auf zivile Infrastruktur und dem eigenen Vorgehen gegen ukrainische Kraftwerke."

Druck auf die Logistik

Für die militärische Lage am Boden bedeute der einsetzende Winter jedenfalls, "dass auf beiden Seiten die Logistikketten unter Druck gesetzt werden, auch was banale Dinge wie winterfeste Kleidung oder Nahrungsmittel betrifft", sagt Graef. "Ich gehe nicht davon aus, dass wir bis Weihnachten neue große Landgewinne der Ukrainer sehen werden, sondern dass sich die Frontlinien etwa im Donbass stabilisieren." Russland, sagt der Experte, dürfte seine Stellungen dort verstärken, ebenso die Ukraine. Auch die Ende September einberufenen russischen Reservisten werden erst nach dem Winter an die Front gelangen.

Die einsetzende kalte Jahreszeit könnte den Verteidigern nun also die dringend benötigte Pause von dem "Imperativ des Handelns" verschaffen, glaubt der österreichische Militäranalyst Gerald Karner. "Das wäre auch gut, um die westlichen Waffenlieferungen besser in die ukrainischen Strukturen einzugliedern, etwa Kampfpanzer, Schützenpanzer und Luftabwehrsysteme."

Auf dem Feld ist von einer Atempause bisher freilich nicht viel zu bemerken. Im Süden ist die Front nach wie vor in Bewegung. "Die russischen Truppen sind dort in einer relativ verzweifelten Lage, weil sie von vielen Nachschublinien abgeschnitten sind. Ich gehe davon aus, dass die Ukrainer noch vor dem Einsetzen der Schlammperiode versuchen werden, die Russen aus dem Gebiet westlich des Dnepr zu vertreiben", sagt Karner. Das Momentum, also der Erfolgslauf der ukrainischen Truppen seit Anfang September, sei durch die russischen Bombardements jedenfalls bisher nicht gebrochen worden.

Sobald die gefürchtete Rasputiza Wirkung zeigt, schweres Kriegsgerät also nur mehr auf befestigten Straßen einsatzfähig ist, rechnet Karner damit, dass der Krieg weniger mobil wird und langsamer vorangeht, "egal, was beide Seiten planen". Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Truppen seien nach einem Dreivierteljahr heftiger Kämpfe erschöpft, "was aber nicht heißt, dass die ukrainische Seite mithilfe der Waffenlieferungen nicht versuchen wird, den Druck auf die Russen aufrechtzuerhalten". Im Frühling, fürchtet Karner, könne der Krieg durchaus wieder neue Fahrt aufnehmen.

Keine Spur von Frieden

Vorerst, stimmt ihm Bundesheer-Analyst Reisner zu, gehe es für beide Seiten aber um Konsolidierung. "Das Signal der erfolgreichen Gegenoffensive war ja, dass man in Europa merkt, dass sich die Unterstützung der Ukraine auszahlt. Darum war es wichtig, vor dem Winter die bestmögliche Position zu erreichen. Man darf aber nicht vergessen, dass die Erfolge der Ukrainer durch schwerste Verluste erkauft werden, von denen man im Westen aber kaum etwas hört."

Von einem baldigen – und nachhaltigen – Ende der Kämpfe in der Ukraine könne jedenfalls keine Rede sein. Darüber sind die Fachleute einig. "Wenn Russland den Krieg beendet, ist er vorbei. Wenn die Ukraine ihn beendet, gibt es die Ukraine nicht mehr", bringt es Reisner auf den Punkt. Denn egal wie fest Rasputiza und Väterchen Frost das Land schon bald im Griff haben mögen: Russlands Raketen treffen die Ukraine auch im Winter.
(Florian Niederndorfer, 15.10.2022)

In mindestens elf ukrainischen Städten sind in den letzten Tagen russische Raketen eingeschlagen, darunter in Dnipro, Lwiw und der Hauptstadt Kiew.
DER STANDARD