Lange Haare, und dennoch ein ganzer Junge. Wo ist das Problem?

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Frage:

"Unser Sohn ist sechs Jahre alt. Er ist fast ein klischeehafter Bub, spielt gerne mit Autos, mag Dinosaurier und alles mit Haien. Dennoch gibt es Dinge, die vielleicht etwas mädchenhafter sind, die er mag: Er lackiert sich hin- und wieder die Fingernägel, wenn ich meine lackiere, und er trägt seine Haare lang. Sein Opa, also mein Vater, kann das nicht akzeptieren. Er macht jedes Mal ein großes Thema daraus. Wir hatten deswegen schon einen Familienstreit mit Kontaktabbruch. Danach gab es ein Gespräch, und eigentlich dachte ich, dass das Thema damit vom Tisch ist. Leider ist es nun wieder da – so präsent wie noch nie, und ich bin verzweifelt.

Mein Vater (63) ist der Meinung, dass lange Haare und Nagellack nichts für einen Burschen sind. Er behauptet, dass unser Sohn in der Öffentlichkeit für ein Mädchen gehalten wird, wenn die beiden zusammen unterwegs sind. Was ich für Unsinn halte, denn er sieht komplett wie ein Junge aus. Viele Buben im Kindergarten haben lange Haare bei uns, wir sind da kein Sonderfall. Jedenfalls will er nun nicht mehr mit ihm rausgehen, weil er sich schämt. Außerdem ist er der Meinung, dass Kinder in seinem Alter solche Entscheidungen nicht selber treffen dürfen. Unser Sohn liebt aber seine langen Haare und will sie nicht schneiden, und warum ich ihm den Lack ausreden sollte, verstehe ich auch nicht, wenn es ihm gefällt?

Aus unserer Sicht (mein Mann ist auf meiner Seite) ist es die persönliche Entscheidung unseres Kindes, und dieses darf über seinen Körper selbst entscheiden. Da mein Vater immer wieder abwertende Kommentare auch direkt an unseren Sohn adressiert, ist dieser schon richtig traurig. Neulich meint er: "Der Opa findet mich nicht schön." Nur: Er mag seinen Opa, er ist eine wichtige Bezugsperson für ihn.

Ich bin oft überfordert, wie ich meinem Sohn erklären soll, dass der Opa in der Hinsicht etwas "alt" ist. Gleichzeitig bin ich von meinem Vater sehr enttäuscht und wirklich verletzt, dass er unser Kind nicht einfach so akzeptieren kann, wie es ist. Unser Sohn merkt natürlich, dass wir Streit haben wegen dieses Themas, und ich möchte auch nicht, dass das auf ihn projiziert wird.

Was soll ich nun tun? Soll ich wieder den Kontakt abbrechen? Mein Sohn wäre unendlich traurig. Er ist eigentlich ein Super-Opa, kümmert sich viel, und wir haben regelmäßig Kontakt, aber im Moment ist mir das alles zu grenzüberschreitend."

Antwort von Linda Syllaba:

Es gab bereits einmal ein klärendes Gespräch mit dem Opa, was waren dort die Schlüsselpunkte? Möglicherweise müssen Sie derartige Gespräche regelmäßig führen, um Ihren Vater daran zu erinnern. Er hat wohl eigene Vorstellungen davon, wie "man" zu sein hat, und erwartet nun, dass die anderen Familienmitglieder seinen Erwartungen entsprechen. Wenn sie das nicht tun, wird Terror gemacht, um seinen Willen durchzubringen. Das ist es wohl, was Sie als grenzüberschreitend bezeichnen. Wenn Ihr Vater sich schämt für seinen Enkelsohn, hat das mit dem Opa zu tun und nicht mit dem Enkel. Er allein hat die Macht, daran etwas zu ändern. Momentan benutzt er seine "Macht", indem er das Kind dazu drängen will, seinem Willen zu folgen. Dann wäre Ruhe. Doch es liegt eine wichtige Lernbotschaft für Ihren Sohn in dieser Situation: Wenn er sich selbst verleugnet, wäre der Opa zufrieden und er weiter liebenswert. Er müsste bloß seine eigene Identität hinten anstellen, dann herrscht wieder Harmonie. Wenn er es nicht tut, hat ihn der Opa weniger bzw. nicht mehr lieb oder muss leiden, weil er sich ja schämt. Das ist ein klassischer Konflikt zwischen Integritäts- und Zugehörigkeitsbedürfnis und erzeugt Schmerz.

Ihr Sohn liebt den Opa bedingungslos und will bestimmt nicht, dass es ihm schlecht geht. Doch dem Opa geht es nicht wegen der Frisur des Enkels schlecht, sondern wegen seiner Gedankenmuster darüber und seiner Erwartungen dazu. Dort wäre der konstruktive Ansatzpunkt für Veränderung, nicht beim Friseur. Wenn ihr Sohn nämlich schon in einer derartigen Thematik dazu gedrängt wird zu lernen, "passe dich an, sonst hab ich dich weniger lieb / geht es mir schlecht / darfst du nicht dazugehören", wird eine Spur für eine womöglich lebenslange Verhaltensweise gelegt, die dem Kind nicht guttut.

Linda Syllaba ist diplomierte psychologische Beraterin, Familiencoach nach Jesper Juul und Mutter. Sie ist Autorin der Bücher "Die Schimpf-Diät" (2019) und "Selfcare für Mamas" (2021).
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Gerade heutzutage muss er in der Lage sein, seine Integrität zu schützen und sich tatsächlich nur dort anzupassen, wo es unbedingt notwendig ist oder er es aus freien Stücken tut. Darüber hinaus soll und muss er seine Männlichkeit und andere Aspekte seines Seins selbst definieren und dazu stehen. Anpassung wird nach wie vor deutlich mehr trainiert in unserer Gesellschaft als die Definition der eigenen Identität und das Schützen von Integrität. Wir brauchen allerdings beides! Denn sowohl Zugehörigkeit als auch Autonomie sind sehr starke menschliche Bedürfnisse, die in Balance gehalten und erfüllt werden müssen, um die Gesundheit zu erhalten.

Stärken Sie Ihren Sohn also weiterhin darin, sich selbst anzunehmen, als der, der er ist, und fragen Sie Ihren Vater, worauf er stolz ist bezüglich seines Enkels. Stolz ist sozusagen der Gegenpol zu Scham, und wenn man sich darauf konzentriert, könnte sich womöglich in der Denkweise etwas ändern. Das ist selbst mit 63 Jahren und darüber hinaus möglich. Ich bin sicher, dass Ihr Vater es aus seinem Weltbild heraus gut meint und keine Ahnung hat, in welche Bredouille er das Kind damit bringt. Deshalb empfehle ich Ihnen, die Wertschätzung für seine gute Absicht in einem klärenden Gespräch unbedingt einzubringen und dennoch zu erklären, worum es hier für seinen Enkel geht. (Linda Syllaba, 28.10.2022)

Antwort von Hans-Otto Thomashoff:

Das Kernproblem scheint bei Ihrem Vater darin zu bestehen, dass er Spiel und Ernst nicht recht auseinanderhalten kann. Ihr Sohn mit seinen sechs Jahren geht spielerisch mit den Rollenattributen um, die als geschlechterspezifische Eigenschaften in unserer Gesellschaft etabliert wurden. Und er bewegt sich damit im Strom der Zeit, wenn er Attribute wie lange Haare oder Nagellack nicht auf das Weibliche beschränkt. Nur hat er von all dem keine Ahnung. Er spielt einfach mit dem, was er schön findet und was andere in seiner Peergroup schön finden.

Hans-Otto Thomashoff ist Psychiater, Psychoanalytiker, zweifacher Vater und Autor. Zuletzt veröffentlichte Bücher: "Das gelungene Ich" (2017), "Damit aus kleinen Ärschen keine großen werden" (2018) und "Was ist wirklich wichtig im Leben?" (2021).
Foto: Andrea Diemand

Ihr Vater scheint nicht zu erkennen, dass all das spielerisch ist und kein wie auch immer geartetes bewusstes Verhalten, das Ihren Sohn jetzt schon für die Zukunft prägen wird. Für den Aufbau seiner Identität sind in der Regel sowieso die eigenen Eltern die entscheidenden Vorbilder, also Sie und Ihr Mann. Und da ist es wichtig, was er bewusst oder auch intuitiv vorgelebt bekommt. Die heute gelegentlich verbreitete Vorstellung, ein Kind würde ganz aus sich heraus seine Identität nach seinen eigenen Bedürfnissen aufbauen, ist sicher gut gemeint, aber falsch verstanden, da sich eine Identität nur aus der Interaktion mit anderen aufbaut. Erst als Erwachsene gewinnen wir die Fähigkeit, uns selbst zu gestalten und damit bewusst zu entscheiden, wie und wer wir sein wollen. Davor ist das Gehirn noch nicht weit genug entwickelt. Damit dürfen und sollten Eltern auch ein Stück weit bestimmen, wie ihr Kind herumläuft. Das Gegenextrem, das jüngst in England Aufsehen erregte, wo Eltern ihren siebenjährigen Buben zur Geschlechtsumwandlung anmelden wollten, ist aus Sicht der Hirnforschung Unsinn, eben weil in einem so jungen Alter noch keine stabile Identität bestehen kann, selbst wenn ein Kind auch noch so beharrlich seinen Willen kundtun mag.

Allerdings stellt sich nun die Frage, und die macht einen wesentlichen Teil des Konfliktes zwischen Ihnen und Ihrem Vater aus, wie es Ihr Vater mit der Liebe hält? Echte Liebe ist eine Liebe ohne Bedingungen. Insofern ist es irritierend, wenn Ihr Vater seinen Enkel ablehnt, nur weil dieser lange Haare und bunte Nägel hat. Ich verstehe, dass Sie dagegen Sturm laufen. Vielleicht ist aber auch genau das der Punkt, der ihn zum Nachdenken bringen kann, die Frage danach, ob Liebe in seinen Augen wirklich so starr an Bedingtheiten geknüpft werden muss. Ein Psychoanalytiker würde sich natürlich die Frage stellen, inwieweit Ihr Vater mit der strengen Ablehnung weiblicher Spielereien bei seinem Enkel nicht insgeheim selbst eigenes Weibliches abwehrt. Aber ob das so ist, das lassen Sie ihn besser in einem stillen Stündchen mit sich selbst ausmachen. (Hans-Otto Thomashoff, 28.10.2022)