Im Gastblog schreibt Molekularbiologe Alejandro Burga über egoistische Gene und zeigt deren wichtige Rolle in der Natur.

Egoismus ist in allen Gesellschaften verpönt und wird von allen großen Religionen verurteilt. Menschliche Gemeinschaften, die egoistisch sind, florieren einfach nicht. So weit die Theorie. In diesem Beitrag stelle ich eine Welt vor, in der Egoismus nicht nur weit verbreitet, sondern sogar der Motor ist, der eine Gesellschaft in einen innovativen Zustand versetzt und vielleicht sogar am Leben hält.

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Können Gene egoistisch sein? Und falls ja, was bedeutet dies für ihr Verhalten?
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Dabei handelt es sich um die Welt der Desoxyribonukleinsäuren oder, wie wir umgangssprachlich sagen, der Gene. Was genau meine ich, wenn ich Gene als egoistisch bezeichne? Einige werden vielleicht denken: "Das müssen die Gene sein, die für das egoistische Verhalten eines Menschen verantwortlich sind." Das ist nachvollziehbar, aber falsch. Zwar kann die genetische Veranlagung durchaus Einfluss auf das Verhalten eines Menschen haben, doch der individuelle Beitrag genetischer Varianten zu Verhaltensmerkmalen ist in der Regel sehr gering und schwer zu untersuchen.

Gene: Auf Zusammenarbeit aus?

Egoistische Gene sind Teile Ihres Genoms, die sich selbst egoistisch verhalten. Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass Gene nicht für ihre Handlungen verantwortlich sind. Sie sind einfach nur sehr lange Moleküle. Dennoch ist dieses anthropomorphe Modell, wie später hoffentlich deutlich wird, sehr nützlich, um ihre Funktion zu verstehen.

Was also macht ein egoistisches Gen egoistisch? Unser Verständnis der natürlichen Welt dreht sich um ein Schlüsselkonzept: die Evolution der Arten. In einer Welt mit begrenzten Ressourcen müssen die Individuen jagen, fliehen, kämpfen und kooperieren, um zu überleben. Und nur jene Individuen, die besser an ihre Umwelt angepasst sind, geben ihre Gene an die nächste Generation weiter. So kann man sich leicht vorstellen, dass eine Mutation, die einen Geparden fünf Prozent schneller laufen lässt, seine Überlebenschancen erhöht und dadurch das Ziel von positiver Selektion sein wird.

Folglich könnten wir davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit der Gene eine klare Funktion und einen Nutzen haben. Das heißt, sie existieren, weil sie für den Einzelnen nützlich sind. Fairerweise muss man sagen, dass unsere Genome tausende Gene enthalten, die in der Lage sind, zweifellos wundersame Handlungen auszuführen. Zum Beispiel Gene, die es uns ermöglichen, Licht wahrzunehmen, Energie aus der Nahrung zu gewinnen, Krebszellen zu bekämpfen, beim Lesen eines Buches emotional zu werden und, was vielleicht am beeindruckendsten ist, unsere Verwandlung von einer winzigen, 0,1 Millimeter großen Zelle in ein Wesen, das auf dem Mond spazieren kann, zu steuern.

Aber Gene können diese Aufgaben nicht im Alleingang erfüllen, sondern müssen zusammenarbeiten. So ist zum Beispiel ein Gen, das die Anleitung für die Herstellung eines Fotorezeptors enthält, allein nutzlos. Tatsächlich sind Gene funktionell so eng miteinander verbunden, dass es für Biologinnen und Biologen sinnvoll ist, sie als komplexe Netzwerke zu betrachten. Solch tiefe funktionelle Verbindungen gibt es nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen verschiedenen Ebenen biologischer Komplexität, von Zellen bis zu Ökosystemen. Wie könnte es also in diesem schönen – fast romantischem – Bild des Lebens Platz für weitverbreiteten Egoismus geben?

(Manche) Gene scheren sich nicht um den Wirt

Der französische Schriftsteller Marcel Proust schrieb in seinem Werk La Prisonnière: "Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen, sondern darin, Altes mit neuen Augen zu sehen!" Wenn Sie die Dinge aus der Perspektive der Gene sehen könnten, würden Sie schnell erkennen, dass auch deren Welt ein ständiger Kampf ist. Ein Kampf ums Überleben. Aber Gene kämpfen nicht auf die gleiche Weise wie Organismen. Sie stürzen nicht versehentlich in einen Abgrund oder werden von einem größeren Raubtier gefressen. Für Gene bedeutet der Tod, dass sie nicht mehr repliziert und an die nächste Generation weitergegeben werden. Der Tod bedeutet, dass sie vergessen werden.

Aber hier ist der Haken. Dem Individuum einen Vorteil zu verschaffen ist keine Voraussetzung dafür, dass die Gene die Nachwelt erreichen. Mit anderen Worten: Es ist durchaus möglich, dass ein Gen bestehen bleibt, ohne seinem Wirt auch nur den geringsten Nutzen zu bringen. Tatsächlich können Gene sogar gegen die Interessen ihres Wirts handeln, wenn dies ihre Überlebenschancen erhöht. Das ist das entscheidende Merkmal egoistischer Gene. Sie handeln in ihrem eigenen Interesse, selbst wenn dies im Extremfall bedeutet, dass sie mehrere der zehn Gebote brechen. Aber wenn egoistische Gene so schädlich sind, warum gibt es sie dann überhaupt? Egoistische Gene gibt es aus demselben Grund wie Giraffen, Ameisen und Ebola: weil sie es können. So widersinnig ihre Existenz auf den ersten Blick auch erscheinen mag, egoistische Gene sind eine direkte Folge derselben evolutionären Prinzipien, die für alle lebenden Organismen gelten. Nur der Maßstab ist ein anderer.

Molekulares Wettrüsten im Genom

Die bei weitem am meisten erforschten egoistischen Gene sind als transponierbare Elemente (oder Transposons) bekannt. Ursprünglich von der brillanten Genetikerin und Nobelpreisträgerin Barbara McClintock in Mais entdeckt, wissen wir heute, dass Transposons in den Genomen praktisch aller Lebensformen auf der Erde vorhanden sind. Aber was macht transponierbare Elemente egoistisch? Einfach ausgedrückt: Sie lieben es, sich zu vermehren. Das heißt, sie haben die Fähigkeit, zehntausende Kopien von sich selbst zu erzeugen. Ihre Überlebensstrategie besteht darin, das Genom zu überwältigen und so ihre Chancen zu maximieren, vererbt zu werden. Das ist so, als würde man im Lotto gewinnen, weil man alle Lose kauft. Zum Vergleich: Ungefähr 46 Prozent des menschlichen Genoms sind transponierbare Elemente. Dies ist besonders beeindruckend, wenn man bedenkt, dass nur 1,5 Prozent unseres Genoms aus "normalen" Genen bestehen.

Aber warum sollten uns Transposons interessieren? Das ist eine berechtigte Frage. Ihr umfangreiches Vorkommen ist nicht einmal annähernd ihr aufregendstes Merkmal. Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass transponierbare Elemente von grundlegender Bedeutung für die Evolution der Immunsysteme von Bakterien und Wirbeltieren sind? Um das zu verstehen, müssen wir ein wenig ausholen. Transposons sind vor allem dafür bekannt, dass sie in neue Regionen des Genoms "springen". Sie sind das biologische Äquivalent zur "Copy and Paste" -Tastenkombination auf Ihrem Computer.

Ihre Fähigkeit zu springen beruht auf einem Enzym, das praktischerweise Transposase genannt wird. Das wirklich Faszinierende ist, dass eine dieser Transposasen schon früh in der Evolution der Wirbeltiere domestiziert wurde und für die Entwicklung unseres Immunsystems von grundlegender Bedeutung war. Ähnlich wie der frühe Mensch gefährliche Wölfe zu treuen Wachhunden domestiziert hat, kann das auch mit egoistischen Genen passieren. In diesem speziellen Fall hat eine "egoistische" Transposase nach mehreren Iterationen von Mutation und natürlicher Selektion eine Familie von Genen hervorgebracht, die als RAGs bekannt sind. Indem sie sich die "Cut and Paste"-Aktivität von springenden Genen zunutze machen, können RAG-Gene die funktionellen Domänen von Immunglobulinen und T-Zell-Rezeptoren neu ordnen und so Millionen einzigartiger Antikörper erzeugen, die Bakterien und Viren bekämpfen können (einschließlich Covid-19). RAG-Gene schützen uns vor Millionen potenziellen Krankheitserregern, von denen einige noch gar nicht existieren.

Über Crispr und springende Gene

Apropos neuartige Therapien. Einige haben vielleicht schon das Wort Crispr in den Nachrichten gehört. Crispr ist eine revolutionäre Technologie, die es ermöglicht, Mutationen in die DNA von Zellen, Organismen und sogar Patientinnen und Patienten einzufügen oder rückgängig zu machen. Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna wurden 2020 für diese bahnbrechende Entdeckung mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Das Geheimnis hinter Crispr ist das Protein Cas9, ein hochprogrammierbares Enzym, das mithilfe eines kleinen RNA-Moleküls als Wegweiser nahezu jede spezifische DNA-Sequenz schneiden kann.

Zurück zu unserer Tastatursprache: Dies entspricht der Computerfunktion "Suchen" und "Ausschneiden". Erst vor kurzem haben Forscherinnen und Forscher, die die evolutionären Ursprünge von Cas9 und ähnlichen Proteinen untersucht haben, herausgefunden, dass ihre molekularen Vorfahren eine spezielle Klasse von bakteriellen Transposasen sind! Und wenn Sie glauben, dass diese Geschichte bereits verworren ist, dann schnallen Sie sich besser an, denn die Evolution hat mehr Wendungen als ein Film von Christopher Nolan – aber hier sind die Plot-Holes wissenschaftliche Entdeckungen, die noch gemacht werden müssen.

Crispr und Cas9 sind keine von Menschen gemachten Erfindungen, sondern wurden von Bakterien vor Millionen Jahren entwickelt und perfektioniert. Bakterien setzen Crispr nicht als Therapie zur Heilung genetischer Krankheiten ein, sondern sie nutzen Crispr, um ein Gedächtnis für pathogene Eindringlinge in ihrem Genom zu speichern und bei einer erneuten Infektion diese Eindringlinge anzugreifen, indem sie ihre DNA in winzige Stücke zerhacken. Das heißt, Crispr ist das (adaptive) Immunsystem der Bakterien! Wenn Sie also das nächste Mal eine Erkältung oder Infektion bekommen, denken Sie an egoistische Gene!

Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar

Die Herausforderungen unseres täglichen Lebens sind nichts im Vergleich zu den Milliarden Jahren ununterbrochener Tüftelei, die wir Leben nennen. Und genau auf dieser kosmischen Zeitskala, die für den menschlichen Verstand undurchdringlich ist, wird das extrem Seltene häufig und das Unmögliche zum Gesetz.

Bis vor nicht allzu langer Zeit dachten die meisten Wissenschafterinnen und Wissenschafter, egoistische Gene seien nur Gesetzlose, die am Rande unserer Genome leben. Unvermeidliche Schädlinge, durch die der Ruhm der guten alten Gene geschmälert wird. Doch der Schein kann trügen. Der enorme evolutionäre Druck, dem egoistische Gene ausgesetzt sind, macht sie zum idealen Schmelztiegel für die Entstehung von Neuem. Tatsächlich könnte so ein molekulares Wettrüsten zwischen egoistischen Genen und ihren Wirten einer der Hauptfaktoren sein, die die Evolution der Komplexität auf unserem Planeten vorantreiben. Wie das geht? Das zu verstehen ist nun unsere große Herausforderung. (Alejandro Burga, 19.10.2022)