Erneut wurde die ukrainische Hauptstadt Kiew von russischen Luftangriffen heimgesucht.

Foto: AFP / Sergei Supinsky

Anziehen, Tasche, Decke. Sie haben fünf Minuten Zeit, um das Haus zu verlassen, besser weniger. Dann zur U-Bahn. Sie wissen nicht, wie lange sie dort ausharren werden. Auf dem Weg treffen sie Nachbarn. Den Blick zum Himmel gerichtet – sieht man die Drohnen? Dann hinein in die Station, wo um 7.15 Uhr Ortszeit noch manch ein Handywecker klingelt.

"Guten Morgen", begrüßen sich manche routiniert und geben einander die Hand. Es ist fast schon normal, dass man sich wieder hier trifft. In den Nachbarschaftsgruppen auf Telegram werden Witze gemacht: "Es ist wieder an der Zeit, Molotowcocktails zu brauen, damit wir die Drohnen selbst abschießen können", schreibt eine Frau. "Ich habe eine Dose Gurken zu Hause, das sollte auch reichen", antwortet eine andere.

Freunde, die nicht in der U-Bahn-Station sind, sondern sich in die fensterlosen Gänge ihrer Wohnungen zurückgezogen haben, berichten von weiteren Explosionen, die im Zentrum zu hören sind, von klappernden Fenstern daheim. In der Tiefe der Metro-Station bekommt man davon nichts mit.

Anders als vergangenen Montag scheint ein großer Teil der Menschen, die hier mit der U-Bahn ankommen, die Lage nicht weiter bedrohlich zu finden. Viele nehmen die Rolltreppe nach draußen, um dann in die Büros zu gehen, obwohl die Gefahr noch nicht vorbei ist.

Viele Städte ohne Strom

Aufgehoben wurde der Luftalarm in Kiew dann erst nach drei Stunden. Und auch das bedeutete noch keine wirkliche Entwarnung. Die Stadtverwaltung rief die Menschen dazu auf, weiter vorsichtig zu sein und bei erneutem Alarm sofort wieder die Schutzräume aufzusuchen.

Auch der jüngste Raketen- und Drohnenbeschuss am Montag hatte nämlich wieder mehrere Todesopfer gefordert. Und einmal mehr war nicht nur die Hauptstadt Kiew betroffen. Russische Angriffe wurden auch aus den Gebieten, Sumy, Dnipropetrowsk und Odessa gemeldet. Im Visier war erneut vor allem die ukrainische Energie-Infrastruktur, in hunderten Städten und Dörfern gab es keinen Strom. "Der Feind kann unsere Städte angreifen, aber er wird uns nicht brechen", schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj im Nachrichtenkanal Telegram.

In Optimismus übte sich auch Kiews Bürgermeister Witali Klitschko: Die meisten Angriffe seien von der ukrainischen Luftabwehr abgefangen worden, sagte er. Ein Luftwaffensprecher bestätigte, man habe bei den jüngsten Angriffen etwa 85 Prozent der eingesetzten Drohnen abgeschossen. Wohl auch angesichts der jüngsten russischen Verluste an der Front fasste Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak die Angriffe mit sogenannten Kamikaze-Drohnen so zusammen: "Die Russen denken, dass ihnen das helfen wird. Das zeigt ihre Verzweiflung."

Hilfe aus der EU

Die EU will der Ukraine helfen, ihren "mutigen Kampf" gegen Russland fortzusetzen, wie es der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag in Luxemburg formulierte. Dort hatten die Außenministerinnen und -minister gerade eine militärische Ausbildungsmission für das Land beschlossen. Das größte Hauptquartier der vorerst auf zwei Jahre angelegten EU Military Assistance Mission (EUMAM) stellt demnach Polen, ein weiteres ist in Deutschland geplant. Österreich unterstütze die Mission, eine Beteiligung sei derzeit aber nicht geplant, sagte Außenminister Alexander Schallenberg mit Hinweis auf die Neutralität. Man werde Kiew mit anderen Mitteln helfen, etwa mit Winterkleidung.

Während Europa versucht, der Ukraine vor einem harten Kriegswinter beizustehen, setzen sich weiter russische Kriegsgegner aus ihrem Land ab. Dazu gehören unter anderem Männer, die ihrer Einberufung an die Front entgehen wollen.

Seit Montag ist aber auch eine prominente Putin-Kritikerin unter den Geflüchteten: Die TV-Journalistin Marina Owsjannikowa hat mit ihrer Tochter Russland verlassen. "Sie sind in Europa, es geht ihnen gut", sagte am Montag ihr Anwalt.

Owsjannikowa war international bekannt geworden, als sie im März während einer Live-Sendung ein kriegskritisches Plakat in die Kamera hielt. Zuletzt stand sie unter Hausarrest, seit zwei Wochen galt sie allerdings als untergetaucht. (Daniela Prugger aus Kiew, Gerald Schubert, 17.10.2022)