Auf Taiwan kursieren Legenden, dass einst im gebirgigen Osten der Insel kleingewachsene, dunkelhäutige Menschen lebten. Bereits in Dokumenten aus der ersten Dynastie des chinesischen Kaiserreichs werden sie erwähnt, fast alle der 16 heute in Taiwan lebenden austronesischen Gruppen kennen Erzählungen von diesem kleinen "Schwarzen Volk".

Von der Wissenschaft aus Mangel an Beweisen bisher angezweifelt, könnte in den Geschichten womöglich doch ein wahrer Kern stecken: Nun ist ein internationales Forschungsteam bei Ausgrabungen in einer Höhle in der Region Xiaoma auf Gebeine gestoßen, die die Existenz eines kleinen indigenen Volks in den Bergen untermauern.

Der freigelegte Schädel dürfte einst einer jungen Frau von geringer Körpergröße gehört haben.
Fotos: Hsiao-chun Hung et al.

Erste Einwanderer

Aus der Zeit, ehe die niederländische Ostindien-Kompanie im 17. Jahrhundert die Insel Taiwan für Europa entdeckte, sind zahlreiche menschliche Funde erhalten. Die ältesten reichen bis zu 30.000 Jahre zurück. Damals lag der Meeresspiegel deutlich niedriger, und Homo sapiens konnte Taiwan trockenen Fußes erreichen. Ob Nachkommen dieser ersten Einwanderer noch lebten, als sich vor etwa 5.000 Jahren Bauern von der südostchinesischen Küste auf der Insel niederließen, war lange unklar.

Doch die nun von einem Team um Hsiao-chin Hung von der Australian National University entdeckten Funde deuten genau darauf hin: Die Knochen, ein Schädel und ein Beinknochen, konnten auf ein Alter von 6.000 Jahren datiert werden. Mehr noch: Bei der Untersuchung von DNA aus dem Schädel fanden die Forschenden Ähnlichkeiten zu Erbinformationen aus Afrika.

Neben den Knochen fanden die Forschenden in der Höhle von Xiaoma auch zahlreiche Steinwerkzeuge.
Fotos: Hsiao-chun Hung et al.

Junge kleine Frau

Außerdem zeigten die Funde auffällige Parallelen zu Ureinwohnern auf den Philippinen, die dort auch "Negritos" bezeichnet werden. Nach Analysen des Schädels und des Oberschenkels kamen die Forschenden zu dem Schluss, dass die Knochen wahrscheinlich von einer jungen Frau stammten, die zu Lebzeiten ungefähr 1,3 Meter groß war.

Wie Hsiao-chin Hung und ihre Gruppe im Fachjournal "World Archaeology" schreiben, könnten ihre Ergebnisse die frühere Existenz des kleinen "Schwarzen Volkes" auf Taiwan bestätigen. Was aus ihnen geworden ist, und ob die neuen Einwanderer von jenseits der Straße von Taiwan etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben, bleibt dagegen rätselhaft. (tberg, 17.10.2022)