Kim de l'Horizon identifiziert sich als non-binär und rasierte sich während der Rede den Schädel: als Zeichen der Solidarität mit den Frauen im Iran.

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Keine großen etablierten, dafür einige junge Namen standen heuer auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Am Montagabend wurde er wie üblich im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse vergeben: Bester deutschsprachiger Roman des Jahres darf sich Blutbuch von Kim de l’Horizon aus der Schweiz nennen. Kim de l’Horizon definiert sich selbst als nonbinär, das gilt auch für die Hauptfigur.

Den Vorort, an dem diese aufgewachsen ist, hat sie schon gegen Zürich und die damit verbundene Freiheit eingetauscht. Nun beginnt die Hauptfigur sich, angestoßen von der Demenzerkrankung der Großmutter, mit der eigenen Familiengeschichte, konkret jener der Frauen, zu befassen und muss dabei deren Schweigen durchbrechen. Ebenso queer sind auch die experimentelle, nicht lineare Form und die laut Jury mal derbe, mal zarte Sprache des Romans (Dumont). Zehn Jahre Arbeiten stecken darin.

Erfahrungshunger

Das Siegerbuch passt damit in die Feststellung der Jurysprecherin Miriam Zeh, es brauche mehr Geschichten über jene, die nicht als Gewinner aufgestiegen seien, sich nicht schon emanzipiert hätten. Es gebe Erfahrungshunger bei den Lesern, persönliche und politische Dringlichkeit hätten in vielen der 202 eingereichten Romane eine Rolle gespielt.

Man findet solche etwa auch im leer ausgegangenen Dschinns von Fatma Aydemir, das von der ersten Generation türkischer Gastarbeiter in Deutschland und deren Nachkommen handelt. Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter erzählt von der Ungerechtigkeit, die einer Frau in den 1980ern vom Ehemann aufgrund ihres Gewichts widerfährt. Ebenso auf der Shortlist gestanden waren Kristine Bilkaus Nebenan über Abgründe des Alltags in einer Kleinstadt, Jan Faktors Trottel, Eckhart Nickels Spitzweg.

Solidarität mit Iranerinnen

Eine Dankesrede hatte Kim de l’Horizon, 1992 bei Bern geboren, zuletzt Hausautor:in an den Bühnen Bern und mit Blutbuch derzeit auch für den Schweizer Buchpreis nominiert, nicht vorbereitet. Stattdessen begann l’Horizon mit Schnauzer und im Kleid zu singen ("There’s something inside you / It’s hard to explain") und holte einen Rasierer aus der Handtasche, um sich als Zeichen der Solidarität mit den Frauen im Iran den Kopf zu scheren: "Ich denke, die Jury hat diesen Text auch ausgewählt, um ein Zeichen gegen Hass, für Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden, zu setzen."

Aus Österreich waren Anna Kim, Marie Gamillscheg und Reinhard Kaiser-Mühlecker auf der Longlist des Preises (25.000 Euro) vertreten. (Michael Wurmitzer, 17.10.2022)