Manche Dinge macht man nicht nur einmal. Etwa weil sie Spaß machen, besonders schön oder einfach Tradition sind. Manchmal – im Optimalfall – kommt all das zusammen. Wie in diesem Fall: Rund um den Wolfgangsee bin ich schon einige Male gelaufen. Davon erzählt wurde in dieser Kolumne auch schon mehrfach.

Doch eine der Grundregeln, die jeder Jung-Journo am ersten Tag eingetrichtert bekommt, lautet "Journalismus ist Wiederholung".

Also kommt hier wieder eine Erzählung vom Wolfgangseelauf. Denn auch wenn die Runde rund um den See, die Ausblicke und mein persönliches Finale da immer gleich sind, ist der Lauf, das Erlebnis, sind die Momente unterwegs doch jedes Mal anders.

Foto: Tom Rottenberg

Das Wetter im Salzkammergut kann zu jeder Jahreszeit alles. Und dass sich die See-Umwanderer und See-umwanderinnen Samstagmittag noch über authentischen Salzkammergut-Schnürlregen freuen durften, machte für Sonntag nicht zwingend optimistisch: Hier wurde, bevor das Klima zu kippen begann, auch schon bei 40 Zentimeter Neuschnee gelaufen. Auch wenn der Wetterbericht für Sonntag nur Gutes verhieß: Einer meiner Vorfahren soll für das Festschrauben des Barometers auf "Schönwetter" im Bad Ischler Kurpark von Amts wegen verantwortlich gewesen sein. Und weit weg ist Ischl von St. Wolfgang ja nicht.

Foto: Tom Rottenberg

Was am Wolfgangseelauf auffällt: Nicht der Marathon ist der wichtigste Teilbewerb dieser Veranstaltung, sondern der 27-Kilometer-Lauf rund um den See. Als der Wolfgangseelauf 1972 das erste Mal ausgetragen wurde, gab es genau diesen einen Bewerb, deswegen nennt man ihn heute "Der Klassiker". 18 Läufer (nur Männer) liefen aus dem Ort raus, dann – zum Abschießen – über den Falkenstein – und danach einen landschaftlich unfassbar schönen Halbmarathon.

Foto: Tom Rottenberg

Das mit dem "schön" sprach sich rasch herum. Eventuell war das schon vorher bekannt. Grundlos spielt die Operette "Im Weissen Rössl" wohl nicht hier. Und die Klischee- und Kitschorgie, mit der Ralph Benatzky 1960 Waltraud Haas und Peter Alexander hier eine im Grunde gar nicht heile (Tourismus-)Welt im Heimatfilm idealisieren ließ, dürfte seither auch den einen oder anderen (Bus-)Reisenden angelockt haben.

Der Wolfgangseelauf ist durchaus ein Wirtschaftsfaktor. Die Veranstalter begrüßten heuer den (insgesamt) 100.000 Läufer, der eine Läuferin war. Solche Events markieren aber überall den Saisonschluss. Lokale, die danach noch geöffnet sind, verlangen dann für den mittelkleinen Salat wohl weniger als 16 Euro.

Foto: Tom Rottenberg

Am Wettkampfmorgen regieren dann aber ausschließlich die positiven Klischees. Wetter und Stimmung waren so perfekt, dass bereits beim Start klar war, dass es schwer sein würde, auf den ersten paar Kilometern den Plan einzuhalten.

Foto: Tom Rottenberg

Zuerst geht es bergab, dann durch die Traumkulisse am Seeufer im Pulk dahin. Die Verlockung, es gleich jetzt und hier "tuschen" zu lassen, ist enorm – und die strahlende Sonne bei null Wind und idealen Temperaturen macht das Pomali-Mantra nicht gerade leichter einhaltbar.

Nur: Da vorne kommt jetzt gleich der Falkenstein.

Foto: Dorit Löffler

Was beim Wandern ein netter Hügel ist, ist laufend ein knackiger Berg. Erst recht im Bewerb. Das Gute: Wer im Hauptfeld kommt, ist meist so in der Gruppe gefangen, dass die, die glauben, das eh "locker" zu "derrennen", von der Masse meist zum Gehen gezwungen werden. Die zügige Wanderung den Falkenstein hinauf ist aber ein echtes Highlight: Man plaudert und lacht, lernt neue Leute kennen – und erkennt mit ihnen, wie lehrreich der gemeinsame Anstieg sein kann.

Foto: Tom Rottenberg

Denn natürlich gibt es auch die, die trotzdem "raufhirschen", als gäbe es dafür Geld oder Freibier. Manche sind tatsächlich früher oben. Aber wenn man sich ein paar Nummern, Dressen oder Gesichter merkt, bestätigt sich danach – oft schon auf dem Weg runter – das Sprichwort, dass man einander immer zweimal sieht. Ins Läuferische übersetzt: Für (außerplanmäßige) Sekunden, die man zu Beginn eines Rennens gewinnt, zahlt man am Schluss meist in Minuten.

Foto: Tom Rottenberg

Das gilt bergauf genauso wie bergab. Doch sogar wer das weiß, macht diesen Fehler mindestens einmal: "Learning by Einfahring" ist Teil jedes Läufer- und Läuferinnenlebens. Erstaunlich ist daran nur, wie viele Menschen doch eine eher flache Lernkurve haben: "Der Falkenstein killt mich jedes Jahr", jammerte einer, den wir bei K17 überholten.

Der gute Mann kroch fast – und versuchte an jedem dritten Baum, die Krämpfe aus seinen Waden zu stretchen.

Foto: Tom Rottenberg

Runter ist auch aus einem anderen Grund nicht ungefährlich: Der Wolfgangseelauf ist flach – mit einer Ausnahme. Bergauf sind glatte Temposohlen unproblematisch – bergab im Herbst und nach Regen kann das aber böse enden. Insbesondere wenn man sich bergauf schon abgeschossen hat und jetzt vermeintlich verlorene Zeit wettmachen will. Dass da alle paar Meter die Bergrettung steht, wirkt beruhigend: Bei Rettungsautos bremsen sich Raser ja auch auf der Autobahn kurz ein.

Wenn sich Helfer dann aber so hinstellen wie der Mann im Bild, werde ich zum Fanboy: Die Herren und Damen sind nicht nur da – sie denken mit.

Foto: Tom Rottenberg

Aber es soll ab jetzt um jemand anderen gehen. Um Beate. Mit der lief ich ab hier gemeinsam. Beate ist eine gute Freundin von Dorit. Normalerweise läuft sie mit Dorit: ziemlich schnell, ziemlich weit.

Ein paar Tage vor dem Lauf war Beate aber umgeknöchelt. "Ist es schlau, wenn du startest?", hatte ich am Vorabend gefragt – und sofort die Klappe gehalten: Diesen Blick kenne ich.

Das erste Mal überholte ich Beate oben, am Falkenstein. Sie hatte offensichtlich Schmerzen. "Soll ich bei dir bleiben?" – "Alles gut."

Ein paar Foto- und einen Pinkelstopp später war sie vor, dann bald neben mir. Ich fragte nicht, sondern entschied: "Ich lauf ab jetzt mit dir." – "Ich weiß aber nicht, ob ich durchkomme." – "Schau ma mal. Aber: Allein verenden ist eher Popsch. Irgendwer muss dich dann ja zu den Sanis tragen."

Foto: Tom Rottenberg

Gegen Schmerzen hilft Ablenkung. Ich textete Beate gnadenlos zu – und hatte Schützenhilfe: In St. Gilgen kommt mein emotionaler Lieblingsmoment des Laufes. Die Pflegerinnen und Pfleger des Hauses Maria stehen dort traditionell mit Schützlingen am Streckenrand. Sie jubeln – wir jubeln zurück.

Doch hier sind es immer noch 17 Kilometer. Beates linker Fuß tat bei jedem Schritt höllisch weh. Aber sie lief.

Foto: Tom Rottenberg

Ob es klug ist, mit einem verletzten Fuß zu laufen? Natürlich nicht.

Aber einer volljährigen, mündigen Frau vorzuschreiben, wann sie laufen darf und wann nicht, steht mir nicht, steht niemandem zu.

Schon gar nicht, wenn diese Frau nicht nur eine erfahrene Läuferin ist und eine Leistungssportvergangenheit hat: Beate war ÖSV-Landeskader-Skifahrerin. Ihre Sitznachbarin im Skigymnasium hieß Marlies Schild. In dieser Welt lernt man, was Schmerzen bedeuten – und wann Schluss ist. "Beim nächsten Sani lass’ ich den Fuß anschauen. Vielleicht können sie ihn vereisen."

Foto: Tom Rottenberg

Die Sanitäter standen dann dort, wo auch die sinnvollste Ausstiegsstelle gewesen wäre: bei Gschwendt. Von hier aus fährt ein Schiff zum Start zurück. Hier startet auch der Zehn-Kilometer-Uferlauf.

Der Notarzt und sein Team sahen sich den Fuß an. Eis hatten sie keines, aber einen stützenden Verband konnten sie anlegen. Ob es nicht schlauer wäre, Beate aus dem Rennen zu nehmen?

Der Arzt legte den Kopf schief: "Ich bin selber Läufer. Ich weiß, wie wir ticken: Ich verbiete sicher niemandem zu laufen." Wir einigten uns auf "g’scheit ist das nicht – aber schön".

Foto: Tom Rottenberg

Der Satz gilt nicht nur, aber besonders hier. Und gleich doppelt am Südufer. Und dann bei diesem Wetter: "Es sind doch nur noch 9K!"

Beate kämpfte hart. Lief – und überholte weit öfter, als wir überholt wurden. Sie ließ sich nichts anmerken – und war wohl froh, dass ich tat, als würde ich nicht sehen, wie unsauber sie rannte. Viel wichtiger: Ich kenne nicht viele Menschen, die nicht längst aufgegeben hätten. Aber: "Dieser Lauf ist zu schön, um ihn nicht zu finishen."

Foto: Tom Rottenberg

Dann, plötzlich, war das Rudel wieder beisammen: Fünf Kilometer vor dem Ziel sammelten wir Elisabeth, zwei davor Dorit ein. "Alles okay? Was tut ihr hier?" Der Plan hatte schließlich gelautet, heute das eigene Rennen zu laufen.

Dorit war nach einem Kilometer, Elisabeth oben am Falkenstein davongezogen. Doch unabhängig voneinander hatten Mutter und Tochter beschlossen, dass wir gemeinsam ins Ziel kommen sollten – und am Streckenrand gewartet. Lange gewartet: "You’ll never walk alone" heißt beim Laufen eben "You’ll never run alone".

Foto: Tom Rottenberg

Der Zieleinlauf in St. Wolfgang ist besonders. Steil bergab fliegt man zunächst am Schwarzen Rössl, dann am Weissen vorbei. Am Streckenrand jubeln Freunde und Freundinnen, Ehe- und sonstige Partnerinnen, Partner – und die Kinder. Hier ist jeder und jede Champion, Heldin und Weltmeister.

Mitunter auch eine Superheldin: Dass Wonderwoman, Superman und Co immer vernünftig handeln, hat ja nie jemand behauptet.

Foto: Tom Rottenberg

Einmal noch scharf nach rechts, dann noch 20 Meter – und das Ding ist in trockenen, vor allem aber glücklichen Tüchern.

Auch wenn andere Zeiten möglich gewesen wären: Cui bono? Wozu? Wem müssen wir etwas beweisen?

Und haben wir uns nicht gerade selbst etwas viel Wichtigeres bewiesen als das, was eine Finisherzeit sagt?

Denn: Was zählt, was bleibt, sind nicht die Zahlen – sondern das Gefühl: dass Schönes schöner wird, wenn man es teilt.

Foto: Tom Rottenberg

Epilog: Zu meiner persönlichen Wolfgangsee-Tradition gehört es, nach dem Lauf in den See zu hüpfen. Das Wasser war angenehm frisch, aber in der Erinnerung deutlich wärmer als in früheren Jahren.

Beate war da gerade im Sani-Zelt. Erste Diagnose: eine zumindest schwer beleidigte Achillessehne. "Ja, das war absolut unvernünftig, aber: nein, ich bereue es nicht." (Tom Rottenberg, 18.10.2022)

Weiterlesen:


Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Organisatoren spendierten zwei Startplätze, der lokale Tourismusverband die Übernachtungen für zwei Personen.

Foto: Tom Rottenberg