Der Online-Versandriese Amazon steht immer wieder wegen der Arbeitsbedingungen seines Lagerhallenpersonals in der Kritik.

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Amazon schafft zwar viele Arbeitsplätze, aber wenig langfristige Perspektiven für die Menschen, die diese Arbeitsplätze annehmen. Laut internen Dokumenten, die dem Onlineportal "Engadget" vorliegen, bleibt nur ein Drittel der 2021 neu angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter länger als 90 Tage im Unternehmen.

2020 lag die Fluktuationsrate in Amazons Lagerhäusern im Bundesstaat New Jersey bei etwa 124 Prozent – und war damit doppelt so hoch wie im Industriedurchschnitt. Somit verlor Amazon dort wöchentlich mehr als zwei Prozent seiner Belegschaft, wie ein Bericht des "National Employment Law Project" (NELP), eines Thinktanks aus New York City, zeigt.

In allen Unternehmensbereichen wird der überwiegende Teil der Kündigungen von der Arbeitnehmerseite ausgesprochen und als "regrettable", also "bedauerlich" eingestuft. Je nach Position im Unternehmen liegt der Anteil dieser Kündigungen zwischen knapp 69,5 und 81,3 Prozent.

Fehlende Aufstiegschancen und schlechte Arbeitsbedingungen

Als Gründe für diese Zustände nennt der NELP-Bericht nicht einhaltbare Leistungsvorgaben, hohe Verletzungsraten unter den Arbeiterinnen und Arbeitern, ständige Überwachung am Arbeitsplatz und damit einhergehende Disziplinarmaßnahmen, absichtlich geringe Aufstiegschancen und viele befristete Arbeitsverträge. Das Urteil über Amazon als Arbeitgeber fällt dementsprechend vernichtend aus: Laut dem NELP-Bericht schaffe der Online-Versandriese "Sackgassenjobs" und schere sich nicht um die Auswirkungen einer solchen Unternehmenskultur auf seine Angestellten und deren Familien.

Die hohe Fluktuation kommt Amazon teuer zu stehen. In den "Engadget" zugespielten internen Amazon-Dokumenten werden die Kosten für die hohe Fluktuation auf acht Milliarden Dollar jährlich geschätzt – knapp ein Viertel des für das Fiskaljahr 2021 gemeldeten Profits.

Amazon-Mitarbeitende warten vor der Lagerhalle in Staten Island, New York City, auf Einlass.
Foto: AP/Robert Bumsted

Amazon will Arbeitskräfte gar nicht lange halten

Ungeachtet dessen scheint dieser hohe "Umsatz" in der Belegschaft Teil der Unternehmenskultur von Amazon zu sein, wie unter anderem ein Interview der "New York Times" mit einem ehemaligen hochrangigen HR-Manager des Unternehmens zeigt. Nach dessen Angaben sähe Amazon-Gründer und Multimilliardär Jeff Bezos eine beständige Belegschaft als "Marsch ins Mittelmaß".

Auch in den Geschäftsberichten von Amazon findet sich diese Einstellung gegenüber der eigenen Belegschaft auf interessante Weise. Wie "Engadget" berichtet, fand sich in diesen Berichten fast 15 Jahre lang der Satz "Wir glauben, dass unser zukünftiger Erfolg teilweise von unserer Fähigkeit abhängt, weiterhin qualifiziertes Personal anzulocken, einzustellen und zu behalten". 2009 hat Amazon diesen Glauben offenbar verloren und sich dazu entschieden, den Satz fortan nicht mehr in seine Geschäftsberichte zu schreiben. 2020 strich man außerdem die Formulierung "Wir betrachten die Beziehung zu unseren Mitarbeitern als gut" – und benannte das Kapitel "Mitarbeiter" in "Humankapital" um.

Eine Amazon-Sprecherin gibt an, das Unternehmen erkenne den Beitrag seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Erfolg des Unternehmens. Deshalb würde man "kontinuierlich evaluieren, wie wir uns machen und wie wir uns verbessern können". Arbeitskräfteabgang sei etwas, das alle Arbeitgeber betreffe, man würde aber alles tun, um "Amazon zu einem bevorzugten Arbeitgeber zu machen". Das wolle man mit "guter Bezahlung, umfassenden Benefits, einem sicheren Arbeitsplatz und umfangreichen Trainings- und Weiterbildungsangeboten" erreichen, die effektiv seien und "immer besser" werden würden. (Jonas Heitzer, 18.10.2022)