Frankreichs Atomwaffen können unter anderem mit den Rafale-Jägern transportiert werden.

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Militärexperten sprechen von "Überraschung", "Lapsus" und "Fehltritt" – begangen durch Emmanuel Macron. Der französische Staatspräsident ist von seiner Funktion her Oberbefehlshaber der Armee und Inhaber des Atomwaffencodes, den ein Uniformierter auf Reisen früher im Köfferchen mittrug. Frankreich verfügt über rund 300 atomare Sprengköpfe, transportiert auf vier U-Booten und zu einem geringen Teil durch Rafale-Kampfflugzeuge.

Das ist nicht einmal ein Zehntel des amerikanischen (6.200 Nuklearköpfe) oder russischen (5.500) Bestands. Für die atomare Abschreckung genügen die 300 französischen und 200 britischen Atomwaffen trotzdem: Jede einzelne hat eine nahezu zehnmal so starke Sprengkraft wie die Atombombe von Hiroshima im Jahr 1945.

Ausschließlich defensiver Zweck

Die nukleare "Force de Frappe" Frankreichs hat, wie schon ihr Begründer Charles de Gaulle 1960 betonte, einen ausschließlich defensiven Zweck. Das bestätigte auch Emmanuel Macron, der vergangene Woche dazu im Fernsehen befragt wurde, seitdem der russische Präsident Wladimir Putin implizit mit einem Nuklearschlag droht.

Macron erklärte, das französische Atomwaffenarsenal könne nach geltender Doktrin nur zum Einsatz kommen, wenn "fundamentale Interessen der Nation" bedroht seien. "Und das wäre keineswegs der Fall, wenn es zum Beispiel einen ballistischen nuklearen Angriff auf die Ukraine oder die Region gäbe", führte er aus.

"Klar nicht unsere Doktrin"

Als die Journalistin nachfragte, ob die französischen Nuklearwaffen also nicht zum Einsatz kämen, wenn Russland im Kriegsgebiet Atomsprengköpfe zünde, bestätigte er: "Das ist ganz klar nicht unsere Doktrin."

Die Aussage sorgt erst verzögert für Reaktionen – die dafür umso deutlicher ausfallen. Die Pariser Zeitung "Le Monde" bezeichnete die präsidiale Klarstellung als "überraschend" und als "Fehltritt". Dieses Urteil rührt nicht daher, dass irgendjemand in Frankreich für den Einsatz von Atomwaffen wäre. Vielmehr beruht die Diskussion darauf, dass der Einsatz offengelassen wird. Wie andere westliche Nukleardoktrinen beruht deshalb auch die Force de Frappe auf dem Prinzip der "strategischen Ambivalenz".

"Verheddert"?

Der Armee nahestehende Portale fragen sich, ob der Präsident einen "Lapsus" begangen habe oder ob er dabei sei, die französische Nukleardoktrin zu ändern. Die Plattform "Zone Militaire" vermutet, dass sich Macron "verheddert" habe. Denn zugleich erklärte er: "Die vitalen Interessen Frankreichs haben heute auch eine europäische Dimension." Das würde einen Einsatz in ganz Europa ermöglichen.

Ob Macron mit "europäisch" aber nur die EU oder den ganzen Kontinent meinte, präzisierte er nicht. Seine Vorgänger Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und François Hollande hatten diese europäische Komponente stets auf die EU bezogen. Sarkozy bot den französischen Nuklearschirm auch Kanzlerin Angela Merkel an; die deutsche Staatsführung zeigte sich allerdings nicht interessiert.

Nato-Übung wieder ohne Frankreich

Daran scheint der Krieg in der Ukraine kaum etwas zu ändern. Berlin zog es diese Woche vor, mit 14 Nato-Staaten an der nuklearen Jahresübung des Nordatlantikpakts in Belgien und Großbritannien teilzunehmen. Das Nato-Mitglied Frankreich blieb dem jährlichen, seit 2021 geplanten Luftwaffenmanöver wie üblich fern.

Der Grund dafür liegt darin, dass die französische Force de Frappe – wie auch die britische Nuklearabschreckung – letztlich nur national ausgerichtet ist. Das äußert sich darin, dass der französische Präsident in Paris allein über den Druck auf den roten Knopf entscheidet.

Signal nach Moskau

Indem Macron einen Einsatz der Force de Frappe von vornherein ausschließt oder zumindest einschränkt, wollte er zweifellos auch ein Signal nach Moskau schicken. Die gleiche "Deeskalierung" – wie sich französische Diplomaten weiter ausdrücken – strebt er in seinen zahlreichen Telefonaten mit Putin an.

Dass er einen Einsatz der Force de Frappe damit im Prinzip ausschließt, wenn er den Sinn der Abschreckung infrage stellt, beachtete er zweifellos zu wenig. Auf Anfrage beeilen sich Élysée-Sprecher heute zu erklären, der Präsident habe einen Nukleareinsatz nicht völlig ausgeschlossen. Diese Berichtigung kommt aber wohl zu spät. (Stefan Brändle aus Paris, 19.10.2022)

Video: Wie Atomwaffen eingesetzt werden könnten
DER STANDARD