Die Omikron-Varianten des Coronavirus sorgen für weniger schwere Verläufe. Eine Gruppe der Universität Boston wollte herausfinden, warum.
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Es handelt sich um einen besonders umstrittenen Forschungsbereich. Im Englischen wird er mit dem Kürzel GOF bezeichnet, was für Gain-of-Function(-Forschung) oder "Funktionsgewinn" steht. Dabei wird versucht, künftige Anpassungen von Erregern im Labor dadurch vorherzusagen, dass sie künstlich hergestellt werden. Zwar hilft die Kenntnis solcher Varianten vor ihrem Auftreten in der Natur, sich darauf besser vorzubereiten. Zuletzt wurde die Erzeugung eines so gefährlichen Virus aber vor allem als unverantwortlich kritisiert.

Für besondere Kontroversen sorgte bereits 2012 eine Variante des Vogelgrippevirus H5N1, die durch gentechnische Veränderungen dazu gebracht worden war, auch für Menschen infektiös zu sein. Und auch die "Laborhypothese", die über ein Entstehen von Sars-CoV-2 in einem Labor spekuliert, enthält die Mutmaßung, dass das Virus bei GOF-Forschungen entstanden sein könnte.

In diesem Licht ist die Aufregung über eine Studie verständlich, die am vergangenen Freitag von Forschenden der Universität Boston auf dem Preprint-Server Biorxiv veröffentlicht wurde. Für diese Untersuchung wurde ein Virus der ursprünglichen Variante mit den Spike-Proteinen der Omikron-BA.1-Variante kombiniert. Das Ziel der Forschenden: Es sollte getestet werden, ob die vergleichsweise milden Verläufe von Omikron mit dem Spike-Protein zusammenhängen, das für das Anbinden des Virus an die Wirtszellen verantwortlich ist, oder ob es dafür andere Gründe gibt.

"Hochgefährliche Variante"

Das Ergebnis der Versuche klingt dramatisch: Während die für die Studie verwendeten Mäuse die Infektion mit Omikron überlebten, starben 80 Prozent von ihnen an der neuen Laborvariante. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Auf Twitter war von "Wahnsinn" die Rede, eine Regulierung der "unverantwortlichen" GOF-Forschung wurde gefordert.

Besondere Kritik rief die Tatsache hervor, dass die Forschungen zwar mit öffentlichem Geld gefördert gewesen seien. Doch die Fachleute der Uni Bosten hatten es allem Anschein nach verabsäumt, die zuständige Stelle – die Nationalen Gesundheitsinstitute (NIH) – um Erlaubnis zu bitten. Von Experimenten an Mäusen mit einer gefährlicheren CoV-Variante sei in dem Projektantrag nicht die Rede gewesen.

Relativierung der Kritik

Doch schon bald mischten sich differenziertere Stimmen unter die Kritik. Die Universität selbst stellte in Abrede, dass es sich überhaupt um GOF-Forschung handelte. Tatsächlich zeigt sich bei genauerer Betrachtung der Ergebnisse, dass die neu erzeugte Virusvariante weniger gefährlich ist als das unveränderte Coronavirus der ersten Generation. Die hohen Todeszahlen bei Mäusen seien darauf zurückzuführen, dass es sich um gentechnisch veränderte Mäuse handelt, die speziell gezüchtet wurden, um für eine Corona-Infektion anfällig zu sein.

Außerdem seien den Tieren große Mengen des Virus verabreicht worden. Die Zahlen scheinen die Beteuerungen der Universität zu bestätigen. Tatsächlich tötete das originale Coronavirus der ersten Generation 100 Prozent der infizierten Mäuse. Das überzeugte nicht alle Kritiker, die das Argument zum Teil als "beschämende" Ausrede bezeichneten.

Auch der österreichische Virologe Florian Krammer hat sich auf Twitter in die Diskussion eingeschaltet und relativiert die Vorwürfe:

Der an der Icahn School of Medicine in New York tätige Virologe machte auf Twitter auf einen weiteren Aspekt aufmerksam, der die Diskussion in einem anderen Licht erscheinen lässt. Er wies darauf hin, dass die Variante gar nicht so neu ist wie behauptet und dass in der Natur bereits einige sehr ähnliche Varianten entstanden seien – in Menschen, wie er betont.

Krammer verteidigt die nun kritisierte Gruppe und betont, dass bereits ähnliche Forschungen durchgeführt wurden, ohne für eine vergleichbare Aufregung zu sorgen. Der Medienrummel sei nicht durch eine – von ihm in Abrede gestellte – hohe Gefährlichkeit verursacht, sondern dadurch, dass jemand nicht um Erlaubnis gefragt habe. Echte GOF-Forschung sei selbstverständlich streng zu regulieren.

Derzeit wird der Richtlinienkatalog für GOF-Forschung in den USA überarbeitet. Nächstes Jahr sollen die neuen Regeln fertig sein. (Reinhard Kleindl, 20.10.2022)