Der Winter naht, und es werde ein langer werden, heißt es in einem neuen Video der proukrainischen Internetkrieger. Eine Armee von "Z-Wanderern" marschiere auf uns zu, heißt es in einer offensichtlichen Analogie zu dem TV-Serienhit "Game of Thrones". Sie – gemeint sind russische Soldaten – würden Unschuldigen Fürchterliches antun und Tag und Nacht Tausende abschlachten, wie die Weißen Wanderer aus dem HBO-Serienhit auch.

Die ukrainische Bruderschaft aber sei "unsere Seele in diesen dunklen und kalten Zeiten". Es gehe nicht nur um die Zukunft irgendwelcher nobler Häuser, es gehe schlichtweg um einen Kampf zwischen den Lebenden und den Toten. Der Feind, das sei immer schon klar gewesen, sei mehr als real, heißt es just in dem Moment, als sich Wladimir Putins Augen eisblau färben. Eine weitere Anspielung auf die Fantasy-Serie, wo der Nachtkönig, der ultimative Bösewicht, ebenfalls die eiskalten Augen besitzt.

Der Winter kommt.
Saint Javelin - Official

Das Video ist nur eine von vielen Internetpatronen, die Unterstützerinnen und Unterstützer des ukrainischen Verteidigungskampfes in den vergangenen Monaten in Richtung Russland abgefeuert haben. Als Urheberin des Videos gilt eine Gruppe, die die heilige Javelin als "Schutzpatronin" der ukrainischen Armee erkoren hat. Sie wurde noch Tage vor Beginn der russischen Invasion vom ehemaligen Journalisten Christian Borys aus der Taufe gehoben, und die Heilige hält auf Abbildungen eben eine Javelin in Händen, eine schulterbare Panzerabwehrlenkwaffe.

Borys berichtete fünf Jahre für die BBC, CBC und "Vice" aus der Ukraine. Mittlerweile betreibt er Saint-Javelin-Accounts in den sozialen Medien und will damit seinen Beitrag leisten.

Die heilige Javelin.
Foto: IMAGO/Sachelle Babbar

Und der Beitrag, den die verschiedenen Online-Kämpferinnen und -Kämpfer leisten, ist nicht zu unterschätzen. Was mit ein paar Memes (lustigen Bildchen mit ironischen Texten) und Avataren (symbolischen Profilbildern, die sich allesamt ähneln) begann, hat mittlerweile immer konkretere Auswirkungen auf dem Schlachtfeld. Einerseits, weil es eine lose und dezentral organisierte Gruppe schafft, die Aufmerksamkeit in westlichen Staaten für die Verteidigungsbemühungen der Ukraine hochzuhalten. Andererseits, weil die lukrierten Spenden und Merchandise-Einnahmen mitunter doch beträchtliche Summen erreichen. 1,67 Millionen Euro habe Saint Javelin mittlerweile umgesetzt, sagt Borys zum STANDARD. Mit den Spenden werden winterfeste Ausrüstung für Soldaten, Erste-Hilfe-Kits und mitunter auch Drohnen gekauft.

Signierte Raketen und Tickets für die Krim-Beachparty

Auch die Nafo-Fellas, wie sich die Mitstreiterinnen und Mitstreiter der selbsternannten North Atlantic Fellas Organization in Anlehnung an das transatlantische Verteidigungsbündnis nennen, lukrieren mit dem Verkauf von Sweatern, Stickern und Eintrittskarten für eine fiktive Beachparty auf der Krim laut eigenen Angaben mittlerweile hunderttausende Dollar. Dominierende Motive sind neben der heiligen Javelin ein Hund der japanischen Rasse Shiba Inu, der es im vergangenen Jahrzehnt als "doge" schon zu einigem Internetruhm gebracht hat und zu dessen Ehren schon eine eigene Kryptowährung geschaffen wurde. Aber auch die eingestürzte Brücke auf die Krim oder die befreite Schlangeninsel kommen regelmäßig vor.

Alle, die an die Nafo spenden, können sich im Gegenzug einen Avatar mit dem Hund basteln lassen, zum Herzeigen auf den sozialen Kanälen. Weil es teilweise bis zu tausend neue Avatar-Aufträge täglich waren, versucht man deren Erstellung auf möglichst viele Schultern zu verteilen oder überhaupt outzusourcen. Oft tragen die Avatare nationale Militäruniformen oder auch nur Adidas-Jogginghosen. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow, die estnische Premierministerin Kaja Kallas, der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis und der US-Kongressabgeordnete Adam Kinzinger haben bereits vorübergehend ihre Profilbilder in sozialen Netzwerken mit einem Nafo-Avatar ausgetauscht oder sich öffentlich dazu bekannt, ein "Fella" zu sein.

Das ukrainische Verteidigungsministerium bedankt sich bei den Fellas.

Die verschiedenen Formen, die der ukrainische Internetwiderstand annehmen kann, zeigt auch das Portal signmyrocket.com. Dort gibt man an, mittels rund 3.000 Spenden bereits knapp 620.000 US-Dollar eingenommen zu haben. Wer der Seite spendet, kann verschiedene Teile der ukrainischen Artillerie mit einem eigenen Spruch oder "Grüßen" für die russische Seite verzieren lassen. Die Preise reichen von 200 Dollar für einen Schriftzug auf einem 155-Millimeter-Artilleriegeschoß bis zu 30.000 Dollar für einen permanenten Schriftzug auf einem ukrainischen SU-24-Bombenflugzeug. Das Geld geht an die Front oder an Hilfsfonds für Zivilistinnen und Zivilisten.

Dirk von Gehlen, Journalist der "Süddeutschen Zeitung" und Autor eines Buches über die Wirkkraft von Memes, vergleicht das Auftreten der Nafo-Aktivistinnen und -Aktivisten mit lustigen Schildern und Plakaten auf Straßendemos. "Auch beim Einsatz vom Memes geht es nicht nur um die direkte Wirkung solcher Aktionen, es sind Symbole, die eine Stimmung in den öffentlichen Raum tragen sollen – einen Widerspruch gegen den russischen Angriffskrieg", sagt von Gehlen zum STANDARD. Dabei gehe es einerseits "um das Zeichen nach außen, aber auch um ein Zusammenstehen als Gruppe, als virtuelle Friedensbewegung". Die inhärente Ironie mache Nafo-Aktivitäten besonders zeitgemäß, so der Journalist.

Beistandsplicht in Artikel V

Und tatsächlich haben sich an den Fellas schon einige russische Politiker und Diplomaten die Zähne ausgebissen. Als sich der russische Chefdiplomat bei den Vereinten Nationen in Wien, Michail Uljanow, ein Wortgefecht mit den Fellas leistete, verordnete er sich nachher selbst eine zweiwöchige Twitter-Pause. Sein Ausspruch "Ihr verbreitet diesen Unsinn. Nicht ich" war da schon legendär innerhalb der Gruppe und wird der russischen Desinformation bei jeder Gelegenheit vorgehalten. Als Shirt zu kaufen gibt es den Spruch freilich längst auch.

Brauchen die Fellas einmal Hilfe in einer Onlinediskussion, bündeln sie ihre Energie unter dem Hashtag #NAFOarticle5. Wie in der echten Nato gelte die Beistandspflicht. Dass die russische Seite den Fellas vorwarf, von der CIA gesponsert oder gar lanciert worden zu sein, nutzten die Meme-Krieger ironisch für die eigene Sache und änderten ihren Herkunftsort in ihren Twitter-Profilen auf Langley, Virginia – den tatsächlichen CIA-Hauptsitz.

Wer hinter den tausenden Freiwilligen, die oft frühmorgens aufstehen oder nach ihrer regulären Arbeit noch im Internet weiterschuften, tatsächlich steckt, ist freilich nicht immer klar. Einige Gründerfiguren sind jedoch bekannt. Kamil Dyszewski etwa gilt als Mitbegründer der Nafo, kam kürzlich aber wegen einer Reihe antisemitischer Tweets, die er gerade einmal Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine absetzte, unter Druck. Er löschte daraufhin viele seiner Tweets und spendete 50 Dollar an das Museum Auschwitz-Birkenau. Seine Tweets sind seither geschützt.

Für prorussische Seiten war dieser Umstand in den vergangenen Tagen freilich ein gefundenes Fressen. Screenshots Dyszewskis werden unter zahlreiche Posts der Fellas gepostet mit der Frage, ob sie sich wirklich mit solch einem Typen identifizieren wollen.

Saint-Javelin-Gründer Borys erklärt auf Anfrage des STANDARD, dass man die Postings, die Dyszewski vor seiner Zeit bei Saint Javelin abgesetzt habe, strengstens verurteile. "Sie geben unsere Überzeugungen in keiner Form wieder." Dyszewski habe sich ehrlich entschuldigt und damit begonnen, Wiedergutmachungen für seine verletzenden Aktionen zu leisten. Bis eine gründliche Prüfung abgeschlossen ist, sei er "von Saint Javelin beurlaubt". (Fabian Sommavilla, 21.10.2022)