Vor wenigen Tagen war wieder ausführlicher vom Physiker Erwin Schrödinger und seinen bahnbrechenden Leistungen zu hören. Anlässlich des Physiknobelpreises 2022 würdigten die Laudatoren für Alain Aspect, John Clauser und Anton Zeilinger die wichtigen Arbeiten, mit denen dieser große Forscher die Quantenphysik vorangebracht hat und für die er 1933 selbst mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet worden war.

In den letzten Monaten hingegen war Schrödinger weniger wegen seiner bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen, sondern vielmehr wegen seines Privatlebens ins Gerede gekommen. Auslöser war ein Text, der Anfang Dezember 2021 in der Onlineausgabe der "Irish Times" (kostenpflichtig) erschien. Unter dem Titel "Wie Schrödinger in Irland seinem Lolita-Komplex frönte" wurde Schrödinger zum Vorwurf gemacht, sich angeblich in ein zwölfjähriges irisches Mädchen verliebt zu haben.

Seltsame "Unschuldsvermutungen"

Zudem zählte der Artikel einige weitere angebliche Affären Schrödingers auf, zum Teil waren dabei Altersangaben von einer mehr als 30 Jahre alten Schrödinger-Biografie, die selbst unter Skandalisierungsverdacht steht, falsch abgeschrieben worden. Behauptete die "Irish Times", dass Schrödingers sexuelles Verhältnis zu Ithi Junger begann, als diese 14 war, so ist in der Biografie von Walter J. Moore davon die Rede, dass dieses erst nach ihrem 17. Geburtstag anfing. Und die Abtreibung hatte sie nicht mit 17 (wie die "Irish Times" behauptete), sondern laut Moore mit 20.

Moores Angaben sind aber selbst fragwürdig. So unterstellte er in seinem 1989 erschienenen Buch dem Physiker einen "Lolita-Komplex", ohne dafür konkretere Anhaltspunkte zu liefern. Aus diesem Grund haben auch die Nachkommen Schrödingers, die Moore Einblick in den Privatnachlass gegeben hatten, nach dem Erscheinen des Buchs jeden Kontakt zum Biografen abgebrochen. (DER STANDARD berichtete.)

Online-Lawine der Empörung

Doch zunächst wieder zurück zum noch schlechter recherchierten irische Onlineartikel, der trotz (oder besser: wegen) seiner offensichtlichen Fehler erstaunliche Resonanz fand: Schrödinger wurde in etlichen anderen Medien, die diese falschen Fakten reproduzierten und weiter dramatisierten, für pädophil oder parthenophil erklärt sowie als (serieller) Missbrauchstäter denunziert. Für das New Yorker Technologiemedium "Futurism" wurde Schrödinger deshalb gar zum "Monster", was wieder vom bekannten US-Physiker Sean Carroll für seine gut 300.000 Follower zustimmend vertwittert wurde.

Diese durch schlechten Journalismus ausgelöste Empörungslawine hatte in Irland, wo Schrödinger 17 Jahre seines Lebens verbrachte, konkrete Folgen: Am renommierten Trinity College wurde beschlossen, den seit den 1990er-Jahren nach Schrödinger benannten großen Hörsaal am Physikinstitut wieder in Physik-Lehrsaal rückzubenennen. Die nach Schrödinger benannte Vortragsreihe erhielt einen neuen Titel, und sein Porträt wurde aus dem Fitzgerald-Gebäude entfernt.

Oxford University versus Trinity College

An der Universität Oxford hingegen, gerade wieder zur besten Hochschule der Welt gewählt, sieht der Umgang mit Schrödinger etwas anders aus. Dort heißt das erst 2018 eingeweihte Schrödinger Building im Oxford Science Park immer noch so. Dass dieser moderne Glas-Beton-Bau nach dem österreichischen Physiker benannt wurde, ist auch ein Verdienst von Sir David Clary, einem renommierten englischen Chemiker, der von 2005 bis 2020 das Magdalen College leitet. Das ist jenes College, an dem Schrödinger von 1933 bis 1936 arbeitete und dem er bereits angehörte, als er den Nobelpreis erhielt.

Clary machte sich aber noch in einer weiteren Weise um Schrödinger verdient: Er verfasste eine neue Biografie, die viel mehr bietet, als der mit britischem Understatement gewählte Titel "Schrödinger in Oxford" verspricht.

David C. Clary, "Schrödinger in Oxford". € 49,99 / 403 Seiten. World Scientific Publishing, London et al. 2022

Neue Rechercheergebnisse

Auch wenn der Schwerpunkt des 400-seitigen Werks auf der Zeit in England von November 1933 bis September 1936 liegt, so liefert es (bisher nur auf Englisch) einen gelungenen und gut lesbaren Überblick über das gesamte Leben und Werk des Physikers, wartet mit neuen Rechercheergebnissen auf (unter anderem mit einem Brief Hitlers an Schrödinger) und widmet sich am Ende auch noch dem wissenschaftlichem Erbe des großen Physikers.

Clary stellt auch einige Gemeinplätze der Schrödinger-Literatur infrage. Seit fast 40 Jahren gibt es das Gerücht, dass Schrödinger seinen Durchbruch bei der Quantenmechanik Ende 1925 bei einem Urlaub in Arosa und in Beisein einer unbekannten jungen Geliebten hatte, der er seinen intellektuellen Höhenflug verdankt habe. Wie Clary rekonstruiert, dürfte dieses Gerücht auf Max Delbrück zurückgehen, von dem es Ernst Peter Fischer aufschnappte und 1984 erstmals publizierte.

Seitdem ist in vielen Texten über Schrödinger von einer geheimnisvollen "dark lady" in Arosa die Rede – das erste Mal in Moores Biografie. Laut den Recherchen von Clary dürfte die Begleiterin in Arosa aber schlicht Annemarie Schrödinger gewesen sein, seine Ehefrau.

Von Berlin nach Oxford und Graz

Dass Schrödinger dann 1933 in Oxford landete, war vor allem Adolf Hitler geschuldet: Der Physiker war ein erklärter Gegner des NS-Regimes, und obwohl er in Berlin den prestigeträchtigen Lehrstuhl des großen Max Planck innehatte, verließ er Deutschland. Seinem unkonventionellen Privatleben blieb er auch in Oxford treu. Dort wurde auch Schrödingers Tochter Ruth geboren, die seiner Liebesaffäre mit Hildegund March entsprang, der Frau des ebenfalls kurz in Oxford lehrenden Physikers Arthur March.

Diese komplizierten privaten Verhältnisse trugen wohl mit dazu bei, dass Schrödinger 1936 nach Graz übersiedelte – was er im Rückblick als Fehler bezeichnete, der sich letztlich als günstig herausstellte: Nach dem "Anschluss" musste Schrödinger Graz unter etwas umstrittenen Begleitumständen verlassen, ehe er in Irland Zuflucht fand. Hätte er den Zwischenstopp in Österreich nicht gemacht, wäre er deutscher Staatsbürger gewesen und wäre womöglich bei seiner Odyssee über Italien, Belgien und Oxford nach Irland als "enemy alien" interniert worden.

Erwin Schrödinger 1939 an der belgischen Nordseeküste unmittelbar vor Kriegsbeginn.
Foto: ESI

Fragwürdige Unterstellungen

Clary wartet aber auch mit einigen Details auf, die Moores umstrittene Biografie und die Insinuationen noch fragwürdiger erscheinen lassen: So zitiert er einen liebevollen Gratulationsbrief, den Ithi Junger 1933 dem frischgebackenen Nobelpreisträger schrieb. Laut den Darstellungen von Moore, der den Brief nicht erwähnte, hätte die damals 21-jährige Ithi jeden Grund gehabt, Schrödinger zu grollen. Aber dieses Schreiben (online ist es hier abrufbar, Seite 11 und 12 von 106) passte wohl nicht so ganz zum Narrativ von Moores Unterstellungen.

Bezeichnend für Moores Skandalisierungen ist aber auch ein Brief, den Hansi Bauer-Böhm – eine der gar nicht so vielen Frauen in Schrödingers Leben – im Dezember 1989 an Moore schrieb, unmittelbar nach Veröffentlichung seiner Biografie. In diesem Brief, den Clary im Buch nicht zitiert, aber den er dem Autor dieses Textes zugänglich machte, heißt es unter anderem: "Sie haben viel erfunden, wo es Ihnen an Informationen fehlte."

Und hinsichtlich Moores Beschreibungen ihrer angeblichen Affäre mit Schrödinger heißt es unmissverständlich: "Ich bin empört über diese Erfindungen, bei denen alles, bis hin zum Alter meiner Kinder, falsch ist." (Klaus Taschwer, 20.10.2022)