An seiner Methode zweifle er nicht, aber es habe Fehler im Ablauf gegeben: Regisseur Ulrich Seidl in seinem Studio.

Foto: Hans Klaus Techt/APA

Kinderdarsteller, die "ausgenutzt" worden seien, getriggerte Szenen in Verbindung mit Alkoholismus, desinformierte Eltern: Anfang September brachte eine Spiegel-Recherche über Unregelmäßigkeiten und Fürsorgeverletzungen am Set von Sparta den österreichischen Regisseur Ulrich Seidl schwer in die Bredouille. Die Weltpremiere auf dem Filmfestival von Toronto wurde abgesagt, heimische Förderinstitutionen sind gegenwärtig mit der Prüfung beschäftigt, ob alle Vorschriften beim Dreh mit Kindern eingehalten wurden.

Bis auf wenige Ausnahmen schwieg Seidl bisher über die Vorwürfe. Dem Profil teilte er schließlich mit, dass er die rumänischen Familien und die Kinderdarsteller mehrmals besucht habe. Sie hätten den Film inzwischen gesehen und nichts zu beanstanden, bestätigte er nun auch dem STANDARD. Am Freitag, 21.10., feiert Sparta auf der Viennale im Gartenbaukino (20.30) seine Österreich-Premiere.

STANDARD: Haben Sie aufgrund der Debatte und der Vorwürfe rund um den "Sparta"-Dreh schon einmal überlegt, Ihre Arbeitsmethode zu adaptieren und an zeitgemäße Sensibilitäten anzupassen?

Seidl: Was heißt schon zeitgemäß? Es gibt kein zeitgemäßes Filmemachen. Meine Methode ist ja nicht falsch. Die Kommunikation ist falsch gelaufen.

STANDARD: Muss die Kommunikation im Team und darüber hinaus nicht Teil der Methode sein? Im Sinne eines Fürsorgeprinzips?

Seidl: Um das klarzustellen: Die Vorwürfe kommen vermutlich unter anderem von einigen Personen, die erst während der Produktion und nur für wenige Tage dazugestoßen sind. Sie wurden aus Zeitdruck offenbar nicht ausreichend darüber informiert, dass ich sehr spezifisch drehe. Sie waren auch nicht unmittelbar am Set dabei. Daraus sind Vermutungen entstanden, die man für Wissen hielt. Viele namentlich genannte Mitarbeiter haben ganz andere Aussagen über die Drehumstände gemacht. Bei mir selbst hat auch nie jemand nachgefragt.

STANDARD: Ihre Verteidiger kennen Sie meist lange und arbeiten in Schlüsselpositionen am Set. Bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an anderen Stellen gab es allerdings auch Missfallen gegenüber der strengen Hierarchie an Ihrem Set, etwa der Abschottung einzelner Bereiche des Teams.

Seidl: Wenn Menschen zusammenarbeiten, kann es immer zu Unbehagen und Missverständnissen kommen. Das ist normal. Das ist aber keine Frage der Hierarchie. Film ist ein künstlerisches Produkt und keine Kommune, jeder hat dort seine jeweiligen Kompetenzen. Daran ist nichts Verwerfliches. Hierarchien gibt es in jeder Institution. Mein Fehler war, dass ich die Missverständnisse nicht erkannt habe.

STANDARD: Warum haben Sie erst nach den Anschuldigungen im "Spiegel" den Kontakt mit den Eltern der Kinder gesucht?

Seidl: Das ist mir tatsächlich noch nie passiert, dass ich so lange keinen Kontakt mit meinen Protagonisten hatte. Aber die Bedingungen waren diesmal anders; wir hatten 2019 abgedreht, dann kam die Pandemie. Ich habe zunächst nur einen Film geschnitten, daraus wurden dann zwei, Rimini und Sparta. Während dieser Zeit haben wir den Kontakt zu den Eltern in Rumänien nicht so gehalten, wie wir es normalerweise tun. In den drei Jahren werden sich die irgendwann gefragt haben, was aus dem Film geworden ist. In dieses Vakuum sind die Spiegel-Journalisten gestoßen. Sie haben die Eltern mit den Aussagen ihrer anonymen Quellen konfrontiert – und mit Spekulationen. Eine Mutter hat uns erzählt, ihr sei gesagt worden, ihr Kind könnte in sexualisierten Szenen gefilmt worden sein, die auf Pornoseiten im Internet landen könnten. So ist große Angst entstanden.

Szenenbild aus "Sparta" mit Georg Friedrich

STANDARD: Der "Spiegel" bestreitet diese Darstellung. Er hat jedoch davon berichtet, dass das Trauma eines Kindes von Ihnen bewusst getriggert wurde, es auch nach dem Drehprozess noch geweint und sich übergeben hat. Gibt es diesen kausalen Zusammenhang?

Seidl: Das sind alles Behauptungen, die durch nichts zu belegen sind. Was die Spiegel-Journalisten offenbar nicht wissen wollten: Bevor wir die besagte Szene drehten, in der der Bub namens Octavian zwischen zwei schnapstrinkenden Männern sitzt, die aber Wasser in den Gläsern hatten, gab es eine lange Phase des Kennenlernens der Darsteller. Sparta ist ein Spielfilm. Octavian wusste, welche Rolle er innehat, und wurde für diese Szene extra instruiert. Er sollte in der Szene Angst spielen, weil der Stiefvater seine Macht über ihn demonstriert. Alles war abgesprochen. Es stimmt auch nicht, dass das Kind bei diesem Dreh erbrochen hat, das ist erst Stunden später im Auto passiert. Daraus kann man nicht schließen, es sei retraumatisiert worden.

STANDARD: Ging es in der Szene nicht auch darum, bei Octavian die Erinnerung an den Alkoholismus seines richtigen Vaters abzurufen?

Seidl: Nein. Angst darzustellen gehörte zur Szene. Aber nicht, dass er weinen muss. Er weinte übrigens, weil er sich die Reaktion seiner Mutter vorstellte, die denken könnte, er hätte Schnaps getrunken. Aus diesen Tränen wurden völlig falsche Schlüsse gezogen.

STANDARD: Kinderpsychiater argumentieren, dass Minderjährige sehr unterschiedlich auf Erfahrungen reagieren, die mit einem vergangenen Trauma verbunden sind. Wie lässt sich das an einem Set ohne die Präsenz von Psychologen denn überhaupt beurteilen?

Seidl: Bei den meisten Filmdrehs lernt der Regisseur die Kinder, die besetzt wurden, nur kurz kennen. Die Betreuung obliegt meist Casting-Personen, Kindercoaches oder Pädagoginnen, die wir ja auch hatten. Aber mit meiner Methode kenne ich meine Darsteller schon Wochen und Monate vorher, meine Dolmetscherin und ich waren daher ebenfalls Bezugspersonen. Ich war oft bei Octavian zu Hause, ich kannte seine Lebensverhältnisse, seine Mutter, seinen Stiefvater. Dieser Prozess ist für mich selbstverständlich. Wenn man mit Laien, zumal Kindern zusammenarbeitet, muss man selbst Verantwortung übernehmen: Natürlich habe ich sie keiner Situation ausgesetzt, aus der ein Trauma entstehen kann.

STANDARD: Dennoch könnte man sagen, es gab zu wenig Transparenz: Sie haben beim Briefing der Eltern über den Dreh das Wort Pädophilie nicht benützt. Hätte es das aus heutiger Sicht betrachtet nicht doch gebraucht?

Seidl: Das finde ich nicht. Wir erzählten den Eltern, worum es geht. Es geht um einen Mann, der sich mit Kindern umgibt; der sie liebt, der mit ihnen auch zärtlich ist. Das Wort Pädophilie wurde nicht verwendet, weil ich es für irreführend halte. Es weckt falsche Erwartungen und löst Befürchtungen aus. Warum wurde das jetzt so ein Skandal? Weil genau dieses Wort Pädophilie im Zentrum von allem steht. Kein Mensch würde das so kommunizieren, weil der Film etwas anderes zeigt.

STANDARD: Weil dann vermutlich niemand mehr mitgemacht hätte?

Seidl: Weil es zu Missverständnissen geführt hätte. Jeder würde denken, wenn ich da mitspiele, bin ich womöglich Teil sexualisierter Szenen. Das Begehren findet im Film nur im Kopf des Hauptdarstellers statt. Mit den Kindern hat es in keiner Szene etwas zu tun.

STANDARD: Kommen wir zum Film: Da behandeln Sie dezidiert Machtgefälle, es geht um die Gewalt der Väter und mit Ewald um eine Art von Ersatzvater, den Sie als Sympathieträger zeichnen. Liegt darin die Zumutung des Films?

Seidl: Das ist wohl ein Aspekt, der den Film für manche Menschen schwierig machen wird. Mich interessiert daran, dass es auf mehreren Ebenen Inhalte und Bezüge gibt. Abwesende Väter, Ersatzväter, patriarchale Strukturen – siehe Octavian und seinen Stiefvater; oder Ewald und seinen Vater, einem an Demenz erkrankten Mann. Der Schauplatz Rumänien hat auch mit diesem Inhalt der Geschichte zu tun. Die Inspiration lieferte eine wahre Geschichte, die in dieser ärmlichen Gegend stattgefunden hat.

"Das Wort Pädophilie wurde nicht verwendet, weil ich es für irreführend halte."

STANDARD: Ewald baut aus der Schule im Ort eine Art Fort, das er Sparta nennt. Dort spielen die Kinder mythische Helden, die dabei manchmal nur Unterhosen tragen. Betrachten Sie den Film auch als Gratwanderung darüber, was man zeigen kann und was nicht?

Seidl: Natürlich denkt man über Grenzen nach, während man das macht. Aber die Grenzen muss man selber kennen. Es geht immer um die Frage, was die Bilder zeigen und wofür sie gebraucht werden.

STANDARD: Die Grenze wäre dann also jene des Einvernehmens mit den jeweiligen Darstellern?

Seidl: Das sehe ich anders. Da ich den Film herstelle, muss ich Verantwortung tragen, für die Darsteller und für das Dargestellte. Es gab auch Leute, die sagten, in einer Geriatrie darf man nicht drehen. Ich habe das, wie Sie wissen, öfters gemacht. Ich bin der Meinung, dass man das darf. Es geht immer um das Wie, nicht um das Was. Wer kann festlegen, dass man alte Menschen, die dahinsiechen, nicht filmen darf? Wer legt die Grenzen fest?

STANDARD: Wenn jemand nicht mehr frei über sein Bild bestimmen kann, ist diese Entscheidung doch problematisch.

Seidl: Für mich ist die Grenze dann erreicht, wenn man jemandem durch das Dargestellte seine Würde nimmt.

STANDARD: Werden die Kinderdarsteller bei der Viennale-Premiere nun dabei sein?

Seidl: Nein, sie werden nicht in Wien sein, weil die Viennale das nicht wollte.

STANDARD: Mit welcher Begründung?

Seidl: Festivalpolitik. Man wollte den Film unbedingt spielen, aber generell keine Kinder beim Festival haben. Natürlich sind wir darüber ins Nachdenken gekommen, denn es wird die Frage aufwerfen, warum die Kinder nicht da sind. (INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh, 21.10.2022)