Die Gletscher schmelzen. In den Sedimenten von Gletscherseen kommt es dadurch zu vermehrtem Überspringen von Viren auf neue Wirtsorganismen.
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Das ewige Eis taut auf und gibt Krankheitserreger frei – dabei handelt es sich nicht um einen Film-Pitch, sondern um ein reales Ereignis, das sich 2014 zutrug. Forschende isolierten aus dem sibirischen Permafrost ein 30.000 Jahre altes Riesenvirus und stellten fest, dass es immer noch infektiös war. 2016 legte der auftauende Boden in Sibirien den Kadaver eines Rentiers frei, der mit Milzbrand infiziert war. Der folgende lokale Ausbruch der Krankheit kostete einen Zwölfjährigen das Leben und ließ 2.300 Rentiere verenden.

Berichte wie diese häufen sich in den letzten Jahren. Ob der Klimawandel tatsächlich das Risiko für virale Infekte erhöht, lässt sich allerdings auch für Fachleute nicht so einfach beantworten. Nun zeigt eine neue Studie, die im Fachjournal "Proceedings of the Royal Society B" veröffentlicht wurde, dass es in der Arktis tatsächlich zu einer Erhöhung des Risikos durch Viren aufgrund von Klimaveränderungen kommt.

Genmaterial aus Sedimenten und Boden

Konkret untersuchte ein Team um Stéphane Aris-Brosou von der Universität Ottawa dafür die Sedimente des Lake Hazen in der Arktis sowie Bodenproben aus der Umgebung. Das darin enthaltene biologische Material wurde genetisch analysiert und dabei Viren und Wirtsorganismen zugeordnet.

Besonders interessierte sich das Team für die Rekonstruktion der phylogenetischen Bäume der Lebewesen und Viren. Damit sind genetische Stammbäume gemeint, in denen die evolutionäre Entwicklung abgebildet ist und die uns derzeit vor allem im Zusammenhang mit den Varianten des Coronavirus begegnen.

Das Forschungsteam im Jahr 2017 bei der Entnahme der Proben aus dem arktischen Lake Hazen, der in Kanada liegt und etwa die Größe des Bodensees hat.
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Diese Stammbäume sind deshalb so interessant, weil sie einen Anhaltspunkt dafür liefern, wie häufig Viren auf neue Wirte überspringen. Die Entwicklung von Viren und Wirten ist normalerweise miteinander verknüpft, man spricht von Koevolution. Das spiegelt sich in Ähnlichkeiten ihrer phylogenetischen Bäume wider. Frühere Arbeiten zeigten, dass eine Entkopplung der phylogenetischen Bäume ein Hinweis auf eine Erhöhung des Übersprungsrisikos ist. Die Idee des Forschungsprojektes war es, die Stammbäume von Viren und Wirten in den Proben miteinander zu vergleichen und zu analysieren, ob ein höheres Risiko für das Überspringen von Viren auf neue Wirte nachweisbar ist.

Umwälzungen durch schmelzende Gletscher

Die Probenentnahme fand bereits im Jahr 2017 statt, nun liegen die Ergebnisse vor. In den Bodenproben sei dabei keine Veränderung festzustellen gewesen, berichten die Forschenden. Fündig wurden sie jedoch in den Sedimenten des Sees. Seit 2007 kam es dort im Vergleich zu den 300 Jahren zuvor zu großen Umwälzungen durch Schmelzwasser, wodurch sich das Ökosystem veränderte. Das ging mit einer Entkopplung der genetischen Stammbäume von Viren und Wirtsorganismen einher, die eine Erhöhung des Übersprungsrisikos zur Folge hat. Die Forschenden fanden auch Hinweise darauf, dass das Überspringen von Viren auf neue Wirte aktuell bereits passiert.

Einen wichtigen Einfluss scheint die Fragmentierung des Lebensraums zu haben. In unregelmäßigen Abständen wird das normalerweise sauerstoffarme Tiefenwasser des Sees aufgewirbelt. Das erzeugt Barrieren, die sich in der Genetik der Lebewesen widerspiegeln. Bei den Viren verursacht das eine Erhöhung der genetischen Diversität. Kommt noch ein geeigneter Überträger dazu, können Viren leichter auf neue Wirte übertragen werden.

Es handle sich um die erste gesamtheitliche genetische Betrachtung der DNA- und RNA-Viren eines ganzen Ökosystems, heißt es in der nun erschienenen Publikation. Der Klimawandel verändert die Lebensräume von Tieren und Pflanzen in der Arktis, die in neuen Umgebungen mit neuen Erregern in Kontakt kommen. Damit steigt das Risiko des Überspringens von Viren auf neue Wirte. (Reinhard Kleindl, 22.10.2022)