Es hätte die erste deutsch-französische Party seit der Corona-Ära werden sollen: Die Regierungen aus Berlin und Paris wollten sich nächste Woche in Fontainebleau zu einer feierlichen gemeinsamen Sitzung treffen. Emmanuel Macron hat sie aber kurzfristig platzen lassen. Das hatte es auf dieser bilateralen Regierungsstufe noch nie gegeben.

Die deutsche Seite klagte am Donnerstag, sie sei über die brüske Absage nicht einmal informiert worden. In Paris hält man sich umgekehrt darüber auf, dass Kanzler Olaf Scholz sein Investitionspaket über 200 Milliarden Euro – den sogenannten Doppelwumms – nicht mit Macron abgesprochen habe. Noch zu Zeiten Angela Merkels sei es üblich gewesen, vor EU-Gipfeln eine gemeinsame Position zu finden und damit in das Treffen der 27 Mitgliedstaaten zu gehen. Das sei die Basis des deutsch-französischen Leaderships in den wichtigsten EU-Belangen gewesen.

Kurzes Treffen am Rande des EU-Gipfels.
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Der Doppelwumms ist nur ein transrheinisches Problem unter vielen. Macron war, wie die Zeitung "Le Monde" vor wenigen Tagen titelte, geradezu "wütend" über Scholz, weil dieser mit 14 EU-Partnern einen Raketenabwehrschirm gegenüber Russland aufziehe, ohne dass sich Frankreich beteiligen könne – oder wolle, wie es in Berlin heißt. Der Pariser Radio-Sender "France-Inter" kommentierte am Donnerstag: "In Paris hat man es gar nicht geschätzt, dass Deutschland im Alleingang amerikanische Flugzeuge und israelische Drohnen kauft, statt ein französisch-italienisches Produkt zu berücksichtigen."

Tiefe Differenzen

Zwei milliardenschwere deutsch-französische Gemeinschaftsprojekte für einen Kampfjet und einen Panzer kommen zudem bis heute nicht vom Fleck. Dabei zeigt sich ebenfalls, wie tief die industriellen und diplomatischen Differenzen gehen: Die Rüstungskonzerne beider Länder finden nicht zueinander, und Macron und Scholz bringen sie auch nicht zusammen, sondern streiten selbst über Exportklauseln.

Ebenso gravierend sind die energiepolitischen Unterschiede: Frankreich setzt seit einem Jahr wieder vermehrt auf Atomenergie, Deutschland sucht sich im Gegenteil mühsam davon zu lösen. In Sachen Gaspreisdeckelung sind Macron und Scholz ebenfalls uneins, was seinerseits strukturelle Gründe hat: In Paris scheut man vor interventionistischen Eingriffen in die Marktpreise viel weniger zurück als in Deutschland.

Wie stark ist der Wille, gemeinsam die EU weiterzubringen?
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Für Streit sorgt auch die Pyrenäenpipeline Midcat, die Gas aus Nordafrika via Spanien bis nach Deutschland und Osteuropa leiten soll. Bei diesem Projekt muss sich Frankreich den Vorwurf einer Solotour gefallen lassen. Der spanische Premierminister Pedro Sánchez und sein portugiesischer Kollege Antónia Costa forderten Paris am Donnerstag erneut auf, dem deutschen Wunsch nach einer Gasleitung aus Südeuropa stattzugeben. Der französische Präsident sperrt sich aber gegen den Transfer durch sein Land.

Teilverständnis und Wunsch nach Stabilität

Vor dem EU-Gipfel versuchte Macron wenigstens die Dinge mit Berlin einzurenken: "Mein ständiger Wunsch ist es, die europäische Einheit und die Freundschaft und Allianz zwischen Deutschland und Frankreich zu bewahren", erklärte er in Brüssel.

Pariser Medien halten sich in diesen Kriegszeiten ebenfalls betont zurück, damit kein offener Streit ausbricht. In "Le Monde" äußerte die in Paris viel beachtete Publizistin Sylvie Kauffmann sogar viel Verständnis für die deutschen Positionen: Die Rückkehr des Krieges bedrohe den Kern des deutschen Modells, und das betreffe sowohl die Energieflüsse, die Landesverteidigung wie auch die für Deutschland strukturelle Beziehung zu Russland, schrieb Kauffmann. All dies fordere den Deutschen einen "tiefgehenden Wandel" ab.

Europäische Diplomaten trösten sich vorläufig damit, dass Deutschland und Frankreich wenigstens beim wichtigsten Thema – dem Ukraine-Krieg – am selben Strick ziehen. Der Eklat zwischen den beiden EU-Schwergewichten schwächt aber notgedrungen die europäische Einheitsfront gegenüber Moskau. Nach dem Rücktritt der britischen Ministerpräsidentin Liz Truss meinte Macron, Großbritannien müsse zu stabilen Verhältnissen zurückfinden. "Was wir vor allem wollen, ist Stabilität." Dazu sollten auch Paris und Berlin beitragen. (Fabian Sommavilla, 20.10.2022)