Die fünfte Premierministerin seit 2016, die dritte Regierungschefin binnen acht Wochen – die britische Politik kommt nicht zur Ruhe. Nach der Rücktrittsankündigung der gescheiterten Kurzzeit-Amtsinhaberin Liz Truss am Donnerstagnachmittag wollen die Konservativen nun bis Ende kommender Woche die Nachfolge klären. Als heißer Favorit wird der frühere Finanzminister Rishi Sunak gehandelt. Führende Oppositionspolitiker verlangten umgehend Neuwahlen. "Die Briten haben Besseres verdient. Wir brauchen einen neuen Start", sagte Labour-Chef Keir Starmer zur Begründung.

Liz Truss zieht nach nur rund eineinhalb Monaten wieder aus der Downing Street mit der Nummer 10 aus.
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Unklar blieb am Donnerstag zunächst, wie sich die Suche nach dem neuen Parteichef gestalten soll, der automatisch Premierminister wird. Das Parteistatut sieht eigentlich die Urwahl durch das Parteivolk vor; in der Unterhausfraktion, aus deren Reihen der neue Mann oder die neue Frau kommen muss, gab es aber wichtige Stimmen, die sich diesmal eine rasche interne Einigung wünschen. Die am Donnerstagabend vorgestellte Einigung: Am Montag finden mehrere Abstimmungen in der Fraktion statt – viele Kandidatinnen und Kandidaten wird es dabei nicht geben, da für die Nominierung die Unterschriften von 100 Abgeordneten gebraucht werden, von denen die Konservativen nur 357 stellen. Dabei sollen zwei übrigbleiben. Diese halten im Laufe der Woche mindestens eine Debatte. Bis Freitag sollen die Parteimitglieder dann entschieden haben.

Sunak als Favorit

Bei der Suche nach dem Nachfolger des gescheiterten Premiers Boris Johnson hatte im Juli der Finanzexperte Rishi Sunak, Sohn indischer Einwanderer, deutlich mehr Stimmen seiner Fraktionskollegen erhalten als die damalige Außenministerin Truss. Bei der Urwahl aber lag Truss mit 57:43 Prozent vorn. Ihre Regierung bildete sie ohne die Anhänger ihres unterlegenen Rivalen, bot auch Sunak selbst keinen Kabinettsposten an.

Noch am Mittwoch hatte Truss um ihren Posten kämpfen wollen. Doch der Rücktritt von Innenministerin Suella Braverman, Vertreterin des rechten Parteiflügels, sowie chaotische Informationspolitik über eine Parlamentsabstimmung machten alle Pläne zunichte. Nach nur 45 Tagen als Premierministerin – ein neuer Rekord in der 301-jährigen Geschichte des Amts – musste Truss ihr Scheitern eingestehen: "Ich kann das Mandat, mit dem ich von der konservativen Partei gewählt wurde, nicht erfüllen."

Oppositionsführer Starmer erklärte umgehend, die 2019 mit solider Mehrheit gewählten Tories hätten nunmehr "kein Mandat für weitere Experimente", schließlich sei Großbritannien nicht "das Lehen der Konservativen". Die Neuwahl des Unterhauses sei "demokratisch zwingend notwendig", betonte auch die Leiterin der schottischen Regionalregierung, Nicola Sturgeon. Die Vorsitzende der Nationalpartei SNP war von Truss im Wahlkampf als "Wichtigtuerin" ("attention seeker") abgetan und im Amt ignoriert worden. Der Streit um die konstitutionelle Zukunft des Vereinigten Königreichs stellt eines der schwierigsten Probleme für den kommenden Premier dar.

Faktor Finanzmärkte

Vor allem aber geht es darum, die misstrauischen Finanzmärkte nicht weiter gegen Großbritannien aufzubringen. Dazu trug am Donnerstag bei, dass der gerade erst seit sechs Tagen amtierende Finanzminister Jeremy Hunt seinen Verbleib im Amt plant. Er werde sich nicht als Kandidat für die Downing Street melden, teilte der 55-Jährige mit. Da Hunt seit Juli bereits der vierte Mann im Amt des auf der Insel mit großen Kompetenzen ausgestatteten Schatzkanzlers ist, dürfte er seinen Platz im künftigen Kabinett fest gebucht haben.

Das macht der immer noch vorherrschenden Parteilogik zufolge beinahe zwingend notwendig, dass als Parteichef und Premierminister nur jemand infrage kommt, der oder die anders als Hunt 2016 für den Brexit gestimmt hatte. Dies trifft sowohl auf Sunak wie auf Braverman sowie die Leiterin des Unterhauses, Penelope Mordaunt, zu. Medienberichten zufolge soll auch Boris Johnson überlegen, erneut für den Parteivorsitz zu kandidieren.

"Ich erkenne an, dass ich (...) das Mandat, mit dem ich von der Konservativen Partei gewählt wurde, nicht erfüllen kann."
Liz Truss in ihrer Abschiedsrede

Mordaunt war bei der jüngsten Abstimmungsserie in der Unterhausfraktion im Juli erst im allerletzten Durchgang hinter dem klar führenden Sunak und Truss auf Platz drei gelandet. Nach dem Tod der Queen beeindruckte die 49-Jährige durch ihre souveräne Führung der Kronratssitzungen, in denen Charles III. als König bestätigt wurde. Zu Wochenbeginn wurde sie von Truss vorgeschickt, um die Regierung im Unterhaus zu verteidigen.

Kampf um Stabilität

Versteckt hatte sich Truss viel zu lang vor der politischen und ökonomischen Realität der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt. Im innerparteilichen Wahlkampf beeindruckte sie die Tory-Mitglieder mit einem Programm von Steuersenkungen, deren Finanzierung stets offenblieb. Dadurch werde Großbritannien nach langen Jahren kümmerlicher Wirtschaftsentwicklung zu Wachstumsraten von jährlich 2,5 Prozent zurückkehren, behauptete sie. Ihr enger Weggefährte Kwasi Kwarteng entließ gleich an seinem ersten Tag im Amt des Finanzministers den hochgeschätzten beamteten Staatssekretär, um deutlich zu machen: Die neue Regierung will mit der herkömmlichen Orthodoxie solider Haushaltspolitik brechen.

Die Quittung dafür erhielten die Regierung, vor allem aber Millionen von Briten im September, als Kwarteng seinen ersten Haushalt vorlegte: Das Pfund verschwand im Keller, die Hypothekenzinsen schnellten ebenso in die Höhe wie die Erträge, die internationale Investoren für den Kauf britischer Staatsanleihen verlangen. Vergangenen Freitag entließ Truss den Kurzzeit-Schatzkanzler, dessen Nachfolger Hunt nahm sämtliche umstrittenen Maßnahmen zurück. (Sebastian Borger aus London, 20.10.2022)