Wenn es darum geht, als höchste politische Instanz der Europäischen Union um die Gunst der besorgten Bürgerinnen und Bürger zu werben, ist den 27 Staats- und Regierungschefs kein Pathos zu platt. Deren Ängste vor explodierenden Gas- und Strompreisen im Winter zu zerstreuen, soziale Erleichterungen anzukündigen, dabei fallen Worte und Ankündigungen selten bescheiden aus.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen legte beim Gipfel alte Vorschläge zum gemeinsamen Gaseinkauf der EU-Staaten und neue Ideen zur Dämpfung exzessiver Preise vor.
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So war das auch am Donnerstagnachmittag. Der Europäische Rat versammelte sich mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Zum xten Mal in diesem Kriegsjahr berieten sie über kurzfristige Not- und langfristige Reformmaßnahmen für die Energiemärkte. Sie spüren, dass Millionen von Menschen, ihre Wähler, auf erlösende Nachrichten "aus Brüssel" warten, auf "Action" kurz vor Winterbeginn.

Quer durch die europäischen Länder inner- und außerhalb der EU steigern die Preissteigerungen die Ängste. Deshalb beschwor der deutsche Kanzler Olaf Scholz gleich beim Eintreffen in der EU-Hauptstadt für seine Verhältnisse geradezu wortreich, worum es gehe: "die Sicherheit der Versorgung und sinkende Preise solidarisch zu organisieren". Darin sind sich im Grunde alle einig.

Wie man dazu kommt, das ist die Preisfrage, denn fast jedes Land will etwas anderes. Scholz sagte, man brauche mehr Zeit für Lösungen, gab sich aber dennoch optimistisch. Und das, obwohl er selbst in Berlin gerade einen Koalitionsstreit um die Verlängerung der Laufzeit von drei Atomkraftwerken nur per "Richtlinienkompetenz", dem ultimativem Machtwort, durchsetzen konnte.

Scholz, der "Bremser"

Bei seinen Kollegen gilt der Deutsche als "Bremser". Die deutsche Regierung hat im Vorfeld des Gipfels die meisten Vorschläge der Kommission, wie man in den offenen Gasmarkt eingreifen, gemeinsames Geld zur Stützung der Wirtschaft locker machen, den Gaseinkauf teilweise vergemeinschaften könnte, um bessere Preise zu erzielen, vorsichtig abgeblockt. Berlin fürchtet, dass es wie so oft auf ungedeckten Milliardenkosten sitzen bleibt, für andere Länder zahlen muss.

Nicht zufällig verwies der Deutsche darauf, dass sein Land für 26 Prozent der EU-Mittel aufkomme. Die Gruppe der Frugalen Vier mit den Niederlanden, Dänemark, Schweden und auch Österreich sieht das ähnlich. Sie sind die relativ größten Nettozahler ins EU-Budget.

750 Milliarden Euro

Nähme man all die Wünsche und Vorschläge zusammen, die zur Preisdämpfung bei Gas und Strom auflaufen könnten, käme wohl ein dreistelliger Milliardenbetrag in Euro zustande, wie vor zwei Jahren beim "Wiederaufbaufonds" zur Pandemie. Dieser verdoppelte das reguläre EU-Budget beinahe, um nicht weniger als 750 Milliarden.

Auf konkrete Zahlen, was die Stützung der Energiemärkte bzw. von sozialen Maßnahmen kosten könnte, will sich noch niemand einlassen. Die Regierungschefs wollten die "Richtlinien" bestimmen. Dann sollen die Kommission und die 27 Energieminister Konkretes festlegen. Eine Idee ist, auf den Gaspreisindex (TTF) Einfluss zu nehmen, exzessive Preisschwankungen mit "Preiskorridoren" einzufangen.

Von der Leyen sprach auch davon, dass aus bestehenden Programmen wie "Repower EU" oder "Sure" noch Milliarden übrig seien.

Vorbild Spanien?

Beim EU-Gipfel standen auf der anderen Seite jene Staaten, die im Zweifel meist für mehr EU-Geld sind, Portugal, Spanien, Italien, Osteuropäer – und Frankreich: Sie wünschen sich den gemeinsamen Gaseinkauf – mindestens 15 Prozent der EU-Gesamtmenge – ebenso wie einen "Preisdeckel" nach dem spanischen Vorbild.

Dort zahlt "der Staat" die Differenz zwischen dem europäischen Marktpreis und dem Preis für das Gas, das national zur Stromerzeugung verwendet wird. So werden Gas und auch Strom für alle billiger. Das kostet aber Milliarden, die über das Budget zumindest vorzufinanzieren sind, was der sozialistische Premier Pedro Sanchez aber über Steuern für Konzerne wieder einspielen möchte. Kanzler Karl Nehammer sympathisiert mit dem "iberischen Modell". Aber Österreich wünscht sich auch eine Wirkungsstudie, wie das alles kostenmäßig durchschlägt.

Aber, so Nehammer staatstragend: "Wir sind in einer Phase des Krieges in Europa, dürfen uns nicht im Klein-Klein verlieren."

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sieht das ähnlich, wobei er fürs große Geldausgeben eintritt. Sein Pech: Er ist geschwächt. In Paris hat er gerade eine Krise der Regierung, die den Staatshaushalt nur per Notparagrafen in der Verfassung durch das Parlament bringt.

Auf EU-Ebene ist Macron Optimist: "Wir werden einen Weg finden." So gingen die Regierungschefs streitend, debattierend, suchend in eine Nachtsitzung. Welche Sofortmaßnahmen übrig bleiben, wird sich erst in Wochen zeigen.

Einig war man sich bei Sanktionen gegen Führungspersonen im Iran wegen der Drohnen im Ukraine-Krieg. (Thomas Mayer, 21.10.2022)