Zehn Stunden dauerten die Verhandlungen beim EU-Gipfel in Brüssel an. Kommissionspräsidentin von der Leyen spricht von der Einführung eines "Marktkorrekturmechanismus, um Episoden überhöhter Gaspreise zu begrenzen".

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Brüssel/Kiew/Moskau – Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich darauf verständigt, an einem Preisdeckel gegen extrem hohe Gaspreise zu arbeiten. "Wir werden einen Marktkorrekturmechanismus einführen, um Episoden überhöhter Gaspreise zu begrenzen", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der Nacht auf Freitag nach rund zehnstündigen Verhandlungen beim EU-Gipfel in Brüssel. Ihre Behörde werde mit den Fachministern der EU-Staaten an einem Gesetzesvorschlag arbeiten.

In der Abschlusserklärung des Gipfels ist konkret von einem "vorübergehenden dynamischen Preiskorridor" für den Handel mit Gas die Rede. Dieser dürfe allerdings nicht die Versorgungssicherheit gefährden. Zudem soll eine Kosten-Nutzen-Analyse für einen Preisdeckel für Gas durchgeführt werden, das zur Stromproduktion genutzt wird. Der Höchstpreis dürfe nicht dazu führen, dass der Gasverbrauch zunehme.

Von der Leyen zufolge unterstützten die EU-Staaten außerdem den jüngsten Gesetzesvorschlag der EU-Kommission, in Zukunft gemeinsam Gas einzukaufen, um die Macht des europäischen Marktes bei der Nachfrage nach Gas zu erhöhen. "Wir wollen außerdem bis zu 40 Milliarden Euro an Mitteln zur Verfügung zu stellen. Damit werden die EU-Mitglieder in der Lage sein, den von den Energiepreisen am stärksten betroffenen Haushalten sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen zu helfen", so die Kommissionspräsidentin.

Offenbar Ausnahme für Ungarn

Für einen Gaspreisdeckel hatten sich im Vorfeld 15 der 27 EU-Staaten ausgesprochen, doch vor allem Deutschland leistete Widerstand und stieß damit auch den traditionellen Kooperationspartner Frankreich vor den Kopf. Ungarn wiederum will für sich eine Ausnahme ausverhandelt haben, wie Premier Viktor Orbán am Freitag via Facebook verlautbarte. Konkret solle der Deckel bei langfristigen Vereinbarungen wie dem Liefervertrag Ungarns mit dem russischen Versorger Gazprom über 15 Jahre nicht greifen.

Selbst wenn es eine gemeinsame Gasbeschaffung in der EU geben sollte, sei Ungarn nicht verpflichtet, sich daran zu beteiligen, heißt es.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz zeigte sich nach den stundenlangen Beratungen zufrieden. "Wir haben uns zusammengerauft", sagte er. Den Eindruck, dass Deutschland isoliert gewesen sei, wies er zurück. Zugleich bekräftigte er seine Skepsis gegenüber dem "iberischen Modell", das unter anderem von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) stark favorisiert wird.

Zufriedenheit nach Einigung

Nehammer hatte sich vor Gipfelbeginn verärgert gezeigt, dass sich das von Spanien und Portugal praktizierte Modell der Gaspreisdeckelung nicht im Maßnahmenpaket der EU-Kommission fand. Nach den Beratungen war der Kanzler jedoch ebenfalls zufrieden. "Es ist tatsächlich ein Rat mit guten Nachrichten", sagte er vor Journalisten. Erstens werde das "iberische Modell" von der EU-Kommission weiterentwickelt, so Nehammer. "Das ist ein wirklicher Fortschritt, weil es zuerst so ausgesehen hat, als würden wir uns damit nicht durchsetzen."

Zweitens soll es einen Gaspreisdeckel geben. Damit ist eine mögliche Preisobergrenze auf den Großhandelspreis TTF an der niederländischen Börse gemeint, um Preisschwankungen einzugrenzen. Ebenso "erfreulich" sei die Einigung auf einen gemeinsamen Gaseinkauf. Dieser solle nun "tatsächlich umgesetzt werden", betonte Nehammer. Viertens soll zur Unterstützung finanzschwacher Länder in der Energiekrise auf bestehende Fonds zurückgegriffen und keine neuen Geldtöpfe gefüllt werden.

"Iberisches Modell" komplexer

Der Gaspreisdeckel könne schon in die Umsetzung kommen, erklärte der Kanzler weiter. Das "iberische Modell" sei deutlich komplexer, weil es viel mehr europäische Staaten betreffe und bei der Umsetzung noch Fragen offen seien. "Aber für Österreich war der Fortschritt wichtig, dass es nicht von vornherein abgelehnt wird", sagte Nehammer. Deutschland hätte "große Bedenken" geäußert.

Der Bundeskanzler betonte auch, Nationalstaaten müssten jetzt "akut" helfen. Die EU-Kommission habe in Aussicht gestellt, dass alle Fördermaßnahmen "verwaltungstechnisch" einfacher gehandelt werden. Bei der Finanzierung des "iberischen Modells, das ist komplexer, werden wir noch von Monaten sprechen", erklärte Nehammer.

Eingriff dringend notwendiger Schritt

"Die Grundsatzeinigung beim Europäischen Rat, einen Eingriff bei den Gaspreisen umsetzen zu wollen, ist ein längst notwendiger Schritt", sagt WKÖ-Präsident Harald Mahrer. Das Problem müsse endlich an der Wurzel gepackt werden. Tausende Betriebe stünden mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angesichts exorbitant gestiegener Energiekosten mit dem Rücken zur Wand.

"Um die Wettbewerbsfähigkeit Europas sowie Wachstum und Wohlstand nicht weiter zu gefährden, muss der bereits vorliegende Verordnungsvorschlag der EU-Kommission jetzt so schnell wie möglich umgesetzt werden", teilte Mahrer mit. Wichtig sei, dass ein Modell umgesetzt werde, das keine negativen Auswirkungen auf die Gaslieferungen in die EU habe. "Alles andere würde die Versorgungssicherheit gefährden. Das dürfen wir vor dem Winter auf keinen Fall riskieren", warnt Mahrer.

Europa braucht mehr Tempo

Kritisch sieht die Gipfel-Ergebnisse ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian: "Die Beschlüsse in der Abschlusserklärung sind vage, die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Maßnahmen bleibt also abzuwarten – die Zeit drängt aber. Das größte Manko ist das weitere Zögern, die Merit Order temporär auszusetzen."

Grundsätzlich zu begrüßen sei der Preisdeckel bei Gasimporten aus dem EU-Ausland. "Das ist insofern wichtig, weil sonst möglicherweise die Gasversorgungssicherheit gefährdet wäre", so der ÖGB-Präsident, der auch den geplanten gemeinsamen Gaseinkauf grundsätzlich positiv bewertet: "Man fragt sich aber schon, warum das erst jetzt umgesetzt wird. Die Nationalstaaten haben sich beim LNG-Einkauf in der Vergangenheit überboten und damit die Preise hinaufgetrieben."

Viele Details noch offen

Die Staats- und Regierungschefs nannten keinen Zeitrahmen, wann die Entscheidungen über die Preisobergrenzen fallen sollten. Die EU-Energieminister werden am kommenden Dienstag über die Maßnahmen beraten.

Spanien und Portugal haben den Preis für Gas, das zur Stromerzeugung im eigenen Land verwendet wird, bereits gedeckelt. Frankreich ist bestrebt, diese Regelung auf die gesamte EU auszuweiten. Unabhängig davon einigten sich die beiden Länder am Donnerstag mit Frankreich auf den Bau einer Pipeline zwischen Barcelona und Marseille. (APA, Reuters, red 21.10.2022)