Bild nicht mehr verfügbar.

Werner Herzog bezeichnet sich als "Soldat des Kinos", nur durch nackte Disziplin sei es möglich, in einem Menschenleben mehr als 70 Filme zu drehen.

Foto: Magnum Photos / Picturedesk / Christopher Anderson

Der Motor des silbernen Mietwagens von Werner Herzog ist noch warm, hinter dem Kühlergrill knackt es. Es ist ein kleiner Wagen, mit Stoffbezug auf den Sitzen, keine Ahnung, wie seine Knie unter das Lenkrad passen. Die Marke ist egal, weil sie Herzog egal ist, irgendein Auto eben, das fährt. Automarken zu kennen sei "albern". Seine Anreise: von Pöllau bei Hartberg über Unterhochegg, Winkl-Boden, Sonnleiten und Oed nach Gschaid und dann nach Birkfeld – Orte in der österreichischen Oststeiermark, wo er sich gerade aufhält. Vermutlich finden sich diese Wegstationen auch in seinem Tagebucheintrag von heute.

Dass wir uns überhaupt treffen, ist erstaunlich, da Herzog hinter jedem, der ihn treffen will, einen "Kretin" vermutet; sein Wort für alle Menschen, die ihm nicht geheuer sind. Der Autovermieter: Kretin. Der Hotelbesitzer: Kretin. Der Reporter: Kretin. Und weil öffentliche Orte demnach einem Kretin-Wimmelbild gleichen, meidet er seit Jahren jede Veranstaltung – es sei denn, er wird ausgezeichnet – und jede Filmpremiere, mit Ausnahme seiner eigenen. Schlimmer als Kretins sind nur "Stinktiere", seine Bezeichnung für wirkliche Schurken, also Mörder, Erpresser, Diktatoren. Davon gab es viele in Herzogs Leben. Bereits als Kind war er überzeugt, sein achtzehntes Lebensjahr nicht zu erreichen. Als er achtzehn wurde, war er gewiss, er würde mit fünfundzwanzig sterben. Jetzt ist er achtzig.

Der Roman eines Lebens

Und er, der Einzelkämpfer, hat wieder was geschrieben: Jeder für sich und Gott gegen alle. (Das ALBUM brachte im August einen Vorabdruck, Anm.) Ein Buch, das gemeinhin als Autobiografie bezeichnet würde, eine Sammlung an Erinnerungen, Kindheit, Jugend, erste Filme, Abenteuer. Er aber nennt es: "Der Roman eines Lebens – die Memoiren meiner Träume".

Er hatte sich immer geweigert, diese zusammenzutragen, denn seine Erinnerungen seien wie Schneeflocken, sie flögen unverbunden nebeneinander her. Doch würde er sein Leben nicht aufschreiben, so würde es schlussendlich eben ein Kretin tun, der recherchiert und Fakten verpflichtet ist. Die sind Herzog aber gar nicht so wichtig. Mit ihm ist es wie mit vielen guten Geschichtenerzählern: Es ist ganz egal, ob das Erzählte faktisch stimmt. Denn während der Erzählung fühlt es sich wahr an, darum geht es. Oder, wie er selbst einmal schrieb: "Nur wenn es Film wäre, würde ich das alles für wahr halten."

Vom Gehen im Eis

Werner Herzog ist zweifelsfrei Deutschlands, vielleicht sogar Europas berühmtester Regisseur. Ein "Soldat des Kinos", wie er sich selbst bezeichnet, denn nur durch nackte Disziplin sei es möglich, in einem Menschenleben mehr als 70 Filme zu drehen. Spielfilme wie Fitzcarraldo (1982), der ihn unter anderem deshalb berühmt machte, weil er dafür ein hundert Tonnen schweres Dampfschiff allein mit Muskelkraft seiner Crew über einen Berg im Amazonas-Dschungel ziehen ließ. Dokumentationen wie Mein liebster Feind (1999), wo er die Beziehung zwischen ihm und seinem längstdienenden Schauspieler, dem abgedrifteten rabiaten Exzentriker Klaus Kinski, darstellt. Oder Grizzly Man (2005), ein Dokumentarfilm über zwei Tierschützer, die von einem Bären getötet wurden. Auch seine Werke als Schriftsteller sind weltbekannt, etwa seine kommentierten Tagebuchaufzeichnungen Die Eroberung des Nutzlosen oder seine Erzählung Vom Gehen im Eis, als er im Winter 1974 in München aufbrach und sich im Schnee und ohne Geld bis Paris durchschlug. Das Time-Magazin setzte ihn 2009 auf die Liste der hundert einflussreichsten Personen der Welt – und Wim Wenders, als er Herzog beim Europäischen Filmpreis 2019 in Berlin den Preis für dessen Lebenswerk überreichte, sprach in seiner Rede von einem "filmemachenden Genie".

In Frankreich und Italien schafft er den Spagat zwischen Avantgarde und Popkultur: Als er einmal einen Talk gab, waren 3000 Tickets innerhalb von fünfzehn Minuten ausverkauft. In den USA zählt er zu den größten Filmstars, die es jemals gegeben hat, vermutlich ist er der berühmteste Deutsche in Amerika. Ganz egal ob Nicole Kidman, Nicolas Cage oder Christian Bale – alle sagen zu, wenn Herzog sie für eine Rolle besetzen will. In einem seiner Filme mitzuspielen ist ein Gütesiegel, wie es sonst maximal Quentin Tarantino ausstellen kann. Herzogs harter deutscher Akzent und seine brachialen Aussagen machten ihn auch als Figur zum Kult – er trat in einer Simpsons-Folge auf und spielte in der Star-Wars-Spin-off-Serie The Mandalorian den Auftraggeber.

Verdiente Glaubwürdigkeit

Seit dreißig Jahren lebt Herzog in Los Angeles, einer Stadt, die er seit jeher liebt und bis zum Letzten verteidigt. Dort erlebt er auch, was es heißt, berühmt zu sein: Fünfzehnjährige Jungs, die ihm auf der Straße nachlaufen und wegen ihm Regisseur werden wollen. Verrückte Fans, wegen denen er nur noch selten in Cafés oder Restaurants geht. Die USA haben in ihm wohl den archaischen, epochalen, europäischen Abenteurer gefunden. Jemand, der seit Jahrzehnten das Reale verkörpert, nachdem sich Amerikaner insgeheim doch sehnen. Oder, wie er selbst sagt: Er habe sich seine Glaubwürdigkeit über Jahrzehnte in konsistenter Arbeit verdient.

In diesem Los Angeles, das vor Werner Herzog zu knien scheint, wollten wir uns eigentlich Anfang des Jahres treffen. Wir wollten einen Roadtrip machen oder zumindest einen verrückten Hollywood-Abend verbringen, doch plötzlich fand Herzog das alles "albern". Als alternativen Treffpunkt schlug er vor: "Das Businesszentrum eines Hotels, also so öde, uninspiriert und ohne Aussagekraft wie möglich." Dann brach der Kontakt irgendwie ab. Herzog schrieb an Büchern und Drehbüchern, ein Prozess, der bei ihm manchmal nur wenige Wochen oder gar Tage dauert, denn "im Kopf ist ohnehin bereits alles angelegt".

Er reiste nach Europa, um nach Venedig zu fahren, zur Biennale, und nach Turin. Und um seine Heimat zu besuchen, die nie Deutschland, sondern immer nur Bayern war. Und irgendwann schrieb er eine E-Mail, er spreche gerade sein Hörbuch Jeder für sich und Gott gegen alle ein, nahe Birkfeld, in der Steiermark. Ich schrieb ihm, das sei nicht zu glauben: Birkfeld, das ist der Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Ich sei in Berlin und wolle über London nach New York, für ein Rechercheprojekt. Herzog war das egal, ich solle sofort vorbeikommen. Also kam ich.

Unwiderruflich wahr

Es ist ein kräftiger Sommertag, der Blütenstaub bedeckt die Landstraßen. Herzogs Angaben per E-Mail sind, wie alles an Herzog, präzise, exakt, unwiderruflich wahr und niemals diskutabel: "Wir treffen uns um 14.30. Es gibt einen Sportplatz, direkt neben der Straße. Knapp einen Kilometer weiter ist links eine Bushaltestelle mit einem kleinen Unterstand. Dort direkt links abbiegen. Es ist das hinterste Haus, etwas nach unten versetzt."

Dort steht sein silberner Leihwagen, er kühlt aus, und Herzog selbst sitzt bereits am Glastisch der Veranda eines Sechzigerjahrehauses. Er trägt ein biederes blaues Poloshirt und hat einen Pullover um die Schultern gelegt – über eine Schnur baumelt die Lesebrille am Hals. Lange Hose und Wanderschuhe, eigentlich wie immer. Warm sei ihm schon, sagt er, aber jammern und ausziehen, das ginge beides nicht, also schwitzt er im Stillen. Oft reist er wochenlang nur mit einer oder zwei Garnituren Kleidung – alles passt in einen kleinen Sack. Handy hat er keines, bloß eine Armbanduhr, sie liegt abgenommen vor ihm auf dem Tisch, drumherum ein paar Fingerspuren am blütenstaubbedeckten Glas. Herzog hat wohl versucht, den Tisch abzuwischen, aber schnell wieder aufgegeben.

"Dass wir uns hier treffen", sagt Herzog mit seiner epochalen Herzog-Stimme, in der das Versprechen einer Geschichte angelegt ist, "liegt an einer Verkettung von Zufällen, die nicht einmal ich selbst mehr überblicke." Sowieso habe er sich über den Zufall des Daseins viele Gedanken gemacht: Wie viele Wendungen sein Leben hätte nehmen können. Wie oft er zufällig richtig lag, wie oft er so dem Tod entging.

Es ist ja erstaunlich, dass er noch am Leben ist: Seine Kindheit auf einem oberbayrischen Bauernhof beschreibt er als archaisch, er sei "in großer Armut" aufgewachsen, ohne fließendes Wasser, mit Plumpsklo und Zimmer mit spärlicher Heizung; im Winter gab es tagelang oft nur eine Scheibe Brot zu essen. Im Dorf herrschte "Anarchie im besten Sinne", denn Männer, Väter, gab es so kurz nach dem Krieg kaum. Sein eigener Vater, wie seine Mutter von Beginn an überzeugter Nationalsozialist, hatte von Fechtduellen in der Burschenschaft große Narben im Gesicht, auf die er stolz war. Verwundet zu sein hatte für Herzog von Beginn an etwas Ehrenvolles. Er war ein Draufgänger, ein Prügler, ein Unruhestifter. Doch als er in einem Streit im Jähzorn fast unabsichtlich seinen Bruder mit dem Messer tötete, wollte er sich unverzüglich ändern. "Mit knallharter Disziplin – die ich mir bis heute erhalten habe", sagt Herzog. Er wurde so ein scheues Kind mit wenigen Freunden. Das ist bis heute so, sagt er, er gehöre in die Kategorie der Einsamen.

Später zog er mit Mutter und Bruder nach München, doch selbst in der Großstadt behielten sie die archaischen Sitten – im Buch schreibt Herzog: "Ein Schnitzel wurde nicht gegessen, sondern war ein Fetzen Fleisch, der gerissen wurde. Und geschlafen wurde nicht, sondern geröchelt." Und er habe sich immer nach der "Welt voller Ungeheuerlichkeiten, Abgründen und Glorie" gesehnt, sagt er, "eine Flucht aus dieser ...", er unterbricht und zeigt in die oststeirische Landschaft, "trügerischen Idylle." Der Flieder blüht, die Grillen zirpen. "Jenseits jeder Idylle", sagt Herzog, "geht Schreckliches vor sich. Das ist immer in mir wach."

Werner Herzog, "Jeder für sich und Gott gegen alle". € 28,– / 352 Seiten. Hanser 2022.
Foto: Hansen

Ritual der Blutrache

Mit sechzehn Jahren reiste Herzog an die Südküste Kretas, um auf einem Fischerboot ein bisschen Geld zu verdienen. Einmal, gegen Mittag, so schreibt er, sah er zwei Tote nebeneinanderliegen, "so nahe, dass sie sich berührten". In der Nacht hätten sich die beiden gegenseitig getötet, im Ritual der Blutrache.

Als er später aufs Meer fuhr, um zu angeln, glitzerten tausende kleine Fische im Licht seiner Karbidlampe. Und über ihm tausende kleine Sterne am Himmel. Herzog sei gewiss gewesen, dass er hier und jetzt alles wisse. "Mein Schicksal war mir offenkundig", schreibt er, "Ich war mir völlig sicher, ich würde mein achtzehntes Lebensjahr nicht erreichen, weil es, von solcher Gnade erleuchtet, niemals wieder gewöhnliche Zeit für mich geben konnte." Herzog erreichte sein achtzehntes Jahr – doch das Meer sollte für immer ein gefährlicher Ort sein: Zweimal hat ihn die Strömung von der Küste weggetrieben. Seine Kraft reichte jeweils nur knapp zum Überleben.

Viele seiner Lebensgeschichten drehen sich darum, dass entweder er oder jemand aus seinem Filmteam knapp dem Tod entkommen ist: Der Biss eines hochgiftigen Rochens im Urwald von Peru, zwei Flugzeugabstürze, Überfälle von Gangs in Rio de Janeiro, mit Messerklingen und Revolver, ein Streifschuss während eines BBC-Interviews 2006. Oder einmal, als er in den Kongo reisen wollte, kurz nach dessen Unabhängigkeit: Im südsudanesischen Juba wurde er so krank, dass er fieberträumend und rattenzerfressen in einem Schuppen nur knapp überlebte. Die Krankheit war sein Glück: Dass er von Juba nicht weiterreiste, hat ihm das Leben gerettet. Denn alle, die an diesem Tag in den Ostkongo reisten, gerieten in einen Hinterhalt und wurden ermordet. "Ich habe aber nie bloß das Abenteuer gesucht", sagt Herzog auf der Veranda. "Ich wollte mich nie bloß aussetzen. Ich hatte immer ein klares Ziel und eine Vision. Die hat mich getragen."

Im Todestrakt

Zum ersten Mal künstlerisch mit dem Tod auseinandergesetzt hat er sich 2011 in seiner Dokumentarserie On Death Row / Im Todestrakt. In acht Filmen interviewt Herzog Todeskandidaten, die in Texas in Hochsicherheitsgefängnissen auf ihre Hinrichtung warten. Jeder der Filme beginnt exakt gleich: mit einer Kamerafahrt auf die Zelle der Hinrichtung. Dann folgt eine Befragung durch Herzog: Per Telefon ist er mit den Insassen hinter einer Glasscheibe verbunden. Herzog trägt ungewöhnlicherweise einen Anzug – aus Respekt vor den Insassen, wie er sagt. Und dann beginnt Herzog "tief in den Abgrund des Gegenübers hineinzuschauen".

Besonders mitgenommen hat ihn der Fall des achtzehnjährigen Michael Perry. Perry hat eine Krankenpflegerin ermordet und ist Verdächtiger in zwei weiteren Fällen. Bevor Herzog ihn traf, kannte er nur die polizeiübliche Mugshots. Als er ihm später vor einer kugelsicheren Glaswand gegenübertrat, erschrak Herzog. "Ich sah einen netten Jungen", sagt er, "und gleichzeitig merkte ich: Einem so gefährlichen Mann habe ich mein ganzes Leben nie in die Augen gesehen. Und ich habe vielen gefährlichen Männern in die Augen gesehen. Ich spürte, dass er ohne zu zögern auf mich geschossen hätte, wenn er könnte." Acht Tage nach dem Gespräch wurde Perry hingerichtet.

Herzogs Dasein zwischen Leben und Tod, als Künstler und als Mensch, erscheint ihm selbst wie ein Tanz auf einem Hochseil, bei dem er meistens gar nicht merkte, dass links und rechts neben ihm der Abgrund war. Kein Zufall, sagt er, dass er mit Philippe Petit befreundet ist, der einmal auf einem Seil zwischen den Türmen des World Trade Center in New York spazierte. Bei vielen seiner Kunststücke ist Petit ungesichert – und auch er ist, es gleicht einem Wunder, noch am Leben. Petit allerdings sprach einmal davon, dass er einen großen Teil seines Lebens in Todesangst verbracht habe.

Todesangst gibt es nicht

Und Herzog? "Niemals", sagt er in die trügerische Idylle, "Todesangst gibt es weder in meinem Wortschatz noch in meinem Leben." Der Tod beeindrucke ihn nicht, weil er nicht zum Leben gehöre. Eine Lieblingsfrage von Herzog, die er immer wieder in seinen Filmen stellt: "Was wird auf Ihrem Grabstein stehen?" Doch als ich sie ihm stelle, findet er sie "albern". Und mir scheint: Er möchte einfach nicht drüber nachdenken. Schnell weiter, immer weitermachen. Als könnte allein durch den konkreten Gedanken an den Grabstein und den Tod irgendwas davon Wirklichkeit werden. Herzog vertraut der Kraft seiner eigenen Erzählung so sehr, dass er es nicht riskieren will. Er verdrängt jegliche Fragen zum Tod. Ich habe die Augen geschlossen, du kannst mich nicht sehen. (Gabriel Proedl, 22.10.2022)