Navid Kermani aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken.

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Seit dem "Riesenroman" Sein Name im Jahr 2011 (immerhin mehr als 1200 Seiten) ist Navid Kermani aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken. Kaum einer versteht so gut, Autobiografisches mit Kulturpolitischem zu verbinden. Letzteres ist Kermanis eigentliche Domäne, schließlich ist er habilitierter Orientalist und eine der bedeutendsten politischen Stimmen in Deutschland. Sein jüngstes Buch Was jetzt möglich ist versammelt 33 gewichtige Aufsätze, oder wie es im Untertitel heißt: "33 politische Situationen".

Beängstigende Radikalität

Und die umfassen so ziemlich alles, was die Weltpolitik seit 30 Jahren beschäftigt, vom politischen Islam bis zum Krieg in der Ukraine. Der älteste Beitrag datiert aus dem Jahr 1993, damals machte sich in vielen islamischen Staaten eine beängstigende Radikalität breit, die Kermani aufmerksam verfolgte.

In Deutschland als Sohn iranischer Eltern geboren, ist er um Modernität in der islamischen Kultur bemüht. In wissenschaftlichen Publikationen hat er sich mit Religion ebenso auseinandergesetzt wie mit der westlichen Perspektive auf den Orient, und er war als Reporter in Krisengebieten wie dem Irak unterwegs und hat die Flüchtlingsbewegungen 2015 in der Türkei in Augenschein genommen.

Fundierter Beobachter

Stets hat er sich dabei als fundierter Beobachter erwiesen, der nicht urteilt, sondern vielmehr zweifelt und so den Tatsachen viel überzeugender auf den Grund kommt. Den Weg zum Schreiben hat er übrigens schon früh gefunden: Mit fünfzehn begann er für die Westfälische Rundschau zu arbeiten und erkannte bald die Komplexität der Politik.

Heute ist er überzeugt, dass ein großer weltpolitischer Zusammenhang besteht, der vom Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 über den erstarkenden islamischen Fundamentalismus bis hin zu 9/11 und der Katastrophe in Syrien oder dem Brexit reicht.

Tatsächlich erkennt man in der Abfolge von Kermanis Aufsätzen diese gespenstische Entwicklung, die er über die Jahre beobachtet und hellsichtig kommentiert hat und die die Gesellschaften des Westens nur nicht wahrnehmen wollten. "Was für eine Illusion, zu glauben, daß wir von den Entwicklungen um uns herum auf diesem immer kleiner werdenden Planeten abgeschottet wären."

Navid Kermani, "Was jetzt möglich ist. 33 politische Situationen". € 24,50 / 221 Seiten. C. H. Beck, München 2022
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Politische Umbrüche

Seit 1989 hat sich die Welt grundlegend verändert, und nicht Glasnost hat "Schule gemacht, sondern Tian’anmen". Beides, das Ende des Kalten Krieges und das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, fand im selben Jahr statt. Auf der anderen Seite die vermeintliche Realpolitik des Westens, die nur realpolitischen Schaden angerichtet habe. Vieles in Europa wertet Kermani als "Absage an Europa", ein Widerspruch, den er etwa aufbrechen sah, als die Schweiz für ein Minarettverbot stimmte, denn für Kermani ist Europa neben den USA das einzige "politische Gebilde", das "religiösen und ethnischen Minderheiten eine gleichberechtigte Teilhabe in Aussicht stellt". Der europäische Wertekanon würde doch darauf abzielen, "Unterschiede politisch zu entschärfen, um sie zu bewahren", denn nicht die Herkunft bestimme, wer zum "europäischen ‚Wir‘" gehört, sondern "die Vorstellung der Gegenwart".

Von dieser sind in der globalisierten Welt alle, nur eben unterschiedlich, betroffen. Als uns 2014 Berichte von einem Genozid an Christen, Jesiden und anderen Volksgruppen im Irak erreichten, plädierte Kermani dafür, den IS, diese "Pol-Pot-Version des Islams", mit Waffenlieferungen und amerikanischen Luftangriffen zu stoppen. Das weist uns auf die aktuelle und schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hin.

Fragen in Kiew

Ausgerechnet am 24. Februar dieses Jahres, als Putin den Krieg gegen die Ukraine begann, erschien in der Zeit ein Beitrag, in dem Kermani den Krieg als Mittel der Politik geißelte und am Ende eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine in den Raum stellte – schließlich wäre das ein Signal, dass von der Ukraine keine Gefahr ausgehen könne, mit dem Nachsatz: "oder nur jene Gefahr für autoritäre Regime, die darin besteht, daß freie Gesellschaften so viel anziehender sind".

Ein paar Wochen später machte sich Kermani selbst auf in die Ukraine, befragte in Kiew die Menschen, etwa ob sie sich vorstellen könnten, irgendwann wieder in Frieden mit den Russen zu leben. Eine der Antworten bestätigt den ganzen Irrsinn: "Ich selbst bin doch praktisch ein Russe (…), ich spreche die gleiche Sprache, das waren Leute wie wir."

Vielleicht sähe die Situation heute anders aus, hätte Europa der Ukraine die geforderten Sicherheitsgarantien gegeben, als sie 1993 die Atomwaffen an Russland abgab. Im Nachhinein ein schweres Versäumnis des Westens, denn "im schlimmsten Fall", so Kermani, könnte aus der damaligen Weigerung der Dritte Weltkrieg folgen. Was wiederum die Komplexität der Weltpolitik beweist, in der nichts ohne Folgen bleibt. (Gerhard Zeillinger, 22.10.2022)