Ein Urwald mit eigenem Ausstellungshaus: Im Haus der Wildnis kann man in ökologische Zusammenhänge eintauchen.

Foto: Theo Kust

Die Urwaldgeschichte wird im Haus der Wildnis mittels Augmented-Reality-Technik vermittelt.

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Vor 18.000 Jahren ließ die auslaufende Eiszeit erste Flechten zu, vor 9000 Jahren breiteten sich Fichtenwälder aus: Das Kamerabild von Tablets wird mittels Augmented-Reality-Technik mit Informationen überlagert.

Foto: Theo Kust

Die 400 Hektar große Urwald blieb seit der letzten Eiszeit nahezu unberührt. Führungen sind streng reglementiert.

Foto: Hans Glader

Man findet sich mitten in der Wildnis zwischen uralten flechtenbewachsenen Urwaldriesen wieder. Vögel erfüllen die Morgenstimmung mit ihrem Konzert. Die Sonne erhebt sich langsam über den Horizont, man spürt ihre wärmenden Strahlen. Die Blätter rascheln. Eine leichte Brise kommt auf und kitzelt auf der Haut. Doch nimmt man die Virtual-Reality-Brille, die einen in diese Szene versetzt hat, wieder ab, ist man zurück in der "Urwaldkapsel", einer kleinen Nische im Ausstellungsraum. Die wärmenden Sonnenstrahlen kommen aus Infrarotlampen, die Morgen brise von Ventilatoren, die dieses virtuelle Erlebnis intensiver gestalten.

Die Urwaldkapseln gehören zu den Stationen der Ausstellung im Haus der Wildnis in Lunz am See in Niederösterreich, das die Urwaldnatur im nicht weit von hier entfernten Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal zugänglich und greifbar machen soll. Die Schau führt – oft mit ähnlicher technischer Unterstützung – viele Zusammenhänge rund um den Naturwald vor Augen: seine Entwicklung über die Jahrtausende hinweg, die komplexe Interaktion zwischen Naturwaldbewohnern oder die drastischen Auswirkungen des Klimawandels. Ebenfalls mittels Virtual-Reality-Brille nimmt man die Perspektive eines Habichtskauzes ein, der über das Wildnisgebiet hinwegfliegt, durch seine Wipfel taucht oder sich zum Gipfel des Dürrenstein emporschwingt.

Strenges Schutzgebiet

Das Wildnisgebiet selbst ist als IUCN-Schutzgebiet der Kategorie I und als erstes Unesco-Weltnaturerbe Österreichs streng geschützt. Um es zu erhalten, müssen menschliche Einflüsse möglichst ferngehalten werden. Führungen sind verfügbar, aber streng reglementiert. Doch gleichzeitig ist dieser kleine Flecken Landschaft, der seit der letzten Eiszeit nahezu unberührt geblieben ist, als Wissens- und Bildungsquelle von großem Wert. Es liegt am Haus der Wildnis, genau diese scheinbaren Gegensätze zu vereinen: Es soll die Menschen in den Urwald führen, ohne dass sie ihn tatsächlich betreten.

"Wir haben bewusst den Weg der Technik gewählt", erklärt Katharina Pfligl, die das Haus der Wildnis leitet. "Den Urwald in einer Ausstellung vollkommen realistisch abzubilden und fühlbar zu machen ist kaum möglich – selbst wenn man mit einer Virtual-Reality-Brille hineinversetzt wird. Die Technologie bietet aber auch die Gelegenheit, die komplexen Zusammenhänge innerhalb des Naturwalds herzuzeigen, die sonst nicht auf den ersten Blick sichtbar sind." Eine der Stationen der Ausstellung veranschaulicht beispielsweise, wie die Bäume über ihre weitläufigen Wurzelgeflechte mithilfe unterirdischer Pilznetzwerke, den sogenannten Myzelien, ihre Nachbarn vor Insektenbefall warnen. Breitet sich der Borkenkäfer aus, wird diese Information weitergegeben und die Bäume wappnen sich etwa mit verstärkter Harzproduktion.

Dass 400 Hektar Urwald hier an der niederösterreichisch-steirischen Grenze Jahrhunderte der intensiven Waldnutzung überdauert haben, ist einer Reihe von glücklichen Umständen geschuldet. Die unzugängliche alpine Kessellage, die ein Abdriften des Holzes erschwerte, gehört genauso dazu wie ein über vier Jahrhunderte währender Grenzstreit zwischen den Verwaltungen der Kartause Gaming und des Stifts Admont.

Schwieriger Weg zum Schutzgebiet

1875 unterband schließlich der damalige Eigentümer Albert Rothschild die wirtschaftliche Nutzung, bevor 1942 und 1988 der lange als Rothwald bekannte Urwald schließlich unter Schutz gestellt wurde. Der Weg zum modernen Schutzgebiet gestaltete sich dann aber durchaus noch schwierig. Die Anerkennung als Naturreservat und Naturschutz gebiet 2003 durch die Naturschutzorganisation IUCN erfolgte etwa, obwohl üblicherweise nur größere Gebiete diesen Status erhalten. In einem mehrjährigen, von der EU geförderten Life-Projekt, das der Anerkennung vorausging, wurde daran gearbeitet, die strengen Voraussetzungen erfüllen zu können.

Nach ersten Vergrößerungen auf der niederösterreichischen Seite wurde nun 2021 die Erweiterung in das steirische Lassingtal geschafft – ein unzugängliches Tal mit einem der letzten weitgehend frei fließenden und unbeeinflussten Bäche Österreichs. Der Wald ist großteils durch Naturverjüngung entstanden. Selbst die rar gewordene Rotbuche ist hier noch häufiger anzutreffen. Die Gebiete wurden aus der Nutzung genommen, um einen neuen Naturwald entstehen zu lassen. Insgesamt hat das gesamte Wildnisgebiet nun eine Fläche von etwa 7000 Hektar.

Die Errichtung eines Schutzgebiets, das sich über zwei Bundesländer erstreckt, aber zentral verwaltet wird, war allerdings mit großen administrativen und rechtlichen Hürden verbunden. Die hier entwickelte Organisationsform ist ein Novum und einzigartig in Österreich. Doch sind für die Zukunft durchaus auch weitere Gebietserweiterungen angedacht. Unter anderem sollen sie mit sogenannten Klimapartnerschaften finanziert werden – Gelder zur CO2-Kompensation von Unternehmen, Flugreisenden oder anderen Treibhausgasemittenten könnten etwa in die Entwicklung neuer Schutzgebiete fließen. Auch das seit dem Jahr 2021 bestehende Haus der Wildnis ist dank vieler Partnerunternehmen und Sponsoren auf dem Gelände eines nicht realisierten Hotelprojekts umgesetzt worden.

Forschung und Bildung

Bereits vor einigen Jahrzehnten begannen Wissenschaftstreibende auch mit systematischen Forschungen über die Naturwaldzusammenhänge im Wildnisgebiet. Wiederansiedlungen wurden angegangen, etwa des Habichtskauzes, der sich gern in alte Baumhöhlen zurückzieht und im von Totholz freien Wirtschaftswald kaum anzutreffen ist. Ihm kann übrigens auch ein "Rückflugticket" als Spende, die seine Rückkehr unterstützt, gesponsert werden. Der nahe gelegene Lunzer See bietet zudem nicht nur ein traditionsreiches Erholungsgebiet, sondern auch ein einmaliges aquatisches Ökosystem, das vor Ort durch das interuniversitäre Forschungszen trum Wassercluster Lunz untersucht wird.

Pfligl und ihre Kolleginnen und Kollegen vom Haus der Wildnis und der Schutzgebietsverwaltung sind dabei, das aus der Forschung resultierende Wissen für ein breites Publikum aufzubereiten. Ein umfassendes Programm wurde erarbeitet, das das Wissen über Wildnis, Klimawandel oder Schutzbemühungen Erwachsenen, vor allem aber auch Kindern zugänglich macht.

Privatbesucher, Schulklassen oder ganze Feriencamps kommen zu Führungen oder Workshops hierher, die wenige Stunden oder mehrere Tage dauern können. Mit den jungen Entdeckern werden beispielsweise Boden- oder Wasserproben genommen, um das Leben darin unter dem Mikroskop zu untersuchen und gemeinsam mit den Guides die Arten zu bestimmen.

18.000 Jahre Geschichte

"In den als Forschungslabor angelegten Aktivitäten, die auf verschiedene Altersgruppen abgestimmt sind, werden die Teilnehmenden dazu motiviert, ihre eigenen Forschungsfragen zu entwickeln und zu beantworten", erklärt Pfligl die Herangehensweise. "Im Rahmen einer ganzen Science Week im Sommer steht unter anderem ein Ausflug ins tatsächliche Wildnisgebiet auf dem Programm."

Was durch einen ungenügenden Schutz des Naturwalds verloren gehen würde, wird klar, wenn man die lange Geschichte des Wildnisgebiets überblickt. Sie erstreckt sich von den ersten Algen, Moosen und Flechten, die hier in der endenden Eiszeit vor 18.000 Jahren Fuß fassten, über die Verbreitung der Fichte vor 9000 und die Einwanderung der Buche vor etwa 6000 Jahren bis hin zur Nutzung der umliegenden Waldgebiete durch den Menschen, mit dem einhergehenden Verschwinden von Tieren wie Wisent, Bär oder Wolf. "Diese Geschichte kann auch in der Ausstellung anhand von Tablets, deren Bild ein 3D-Landschaftsmodell überlagert, sehr anschaulich nachvollzogen werden", betont Pfligl.

Klimaszenarien in Aquarien

Doch auch ohne weitere direkte Einflussnahme durch Menschen vor Ort steht dem Wildnisgebiet eine große menschengemachte Veränderung bevor – der Klimawandel hinterlässt auch hier Spuren. Wie sehr die Region schon betroffen ist, führen zwei Aquarien vor Augen, die in der Ausstellung installiert sind. Sie bilden die Biodiversität im Lunzer See ab, zum einen in einem Zustand vor wenigen Jahrzehnten, zum anderen in der Gegenwart.

"Die Zusammensetzungen der Tier- und Pflanzenpopulationen sind vollkommen unterschiedlich", schildert Pfligl. "Früher war der See ein Platz für hochspezialisierte Arten, etwa für den Alpinen Seesaibling, den es nur hier gab. Mittlerweile hat sich das Wasser des Sees im Jahresmittel aber bereits um 1,5 bis zwei Grad Celsius erwärmt." An die Stelle der Spezialisten, die eine bestimmte ökologische Nische besetzen, treten Generalisten und anpassungsfähige "Einwanderer" aus anderen Ökosystemen.

Bereits am Eingang zur Ausstellung im Haus der Wildnis werden die Besuchenden mittels Augmented-Reality-Technik in ein Video einer Urwaldszene auf einer großen Leinwand projiziert und erscheinen so als Teil dieser Natur. Man kann sich auf die umgebende Natur einlassen, ihr zuhören und ihren Wandel beobachten – oder sie übertönen und ignorieren. Man bemüht sich hier, klarzumachen, wie viel von dieser Entscheidung abhängt. (Alois Pumhösel, 21.10.2022)