Mit 14.000 Tonnen Gewicht und 15 Metern Durchmesser ist er der kleinere der beiden Hauptdetektoren des LHC, mit denen 2012 die Entdeckung des Higgs-Teilchens gelang.
Foto: Michael Hoch

Wer die Statements zur Entdeckung des Higgs-Teilchens 2012 verfolgte, konnte meinen, es mit Forschungen über Vögel zu tun zu haben. Wenn etwas aussehe wie eine Ente und sich so verhalte, sei es vermutlich eine Ente, erklärte der Direktor des US-amerikanischen Fermilab anlässlich der lang erwarteten Erfolgsmeldung.

Natürlich handelte es sich nicht um einen Vogel, der hier entdeckt worden war, sondern um das meistgesuchte physikalische Objekt der vorangegangenen Jahrzehnte: das Higgs-Teilchen. Dass Fachleute dennoch zu solchen wissenschaftsphilosophischen Umschreibungen greifen, ist bemerkenswert. Die Realität ist eben keine ganz einfache Angelegenheit, wenn es um Entdeckungen auf der Ebene der kleinsten Bausteine der Materie geht. Schon in der Quantenphysik ist nicht ganz klar, welche Eigenschaften von physikalischen Objekten als real angesehen werden können. In der Welt der Elementarteilchen kommt es zu weiteren faszinierenden Unwägbarkeiten.

Vom Bekannten ins Unbekannte

Das Higgs-Teilchen erfüllte den erwähnten Ententest mit Bravour, es verhielt sich exakt so, wie man es von ihm erwartete. Nach der Entdeckung ging es daran, das neue Objekt genauer zu untersuchen. Das Teilchen, dessen Erzeugung an sich schon eine Sensation gewesen war, musste nun in ausreichenden Mengen hergestellt werden, um es vermessen zu können. Eine Herausforderung, die die Forschungsteams des größten Teilchenbeschleunigers der Welt während der letzten zehn Jahre beschäftigte. Inzwischen treffen die Ergebnisse ein. Das Team hinter dem CMS-Detektor berichtet nun in einer im Fachjournal "Nature" erschienenen Studie von neuen Erkenntnissen über die Masse des Higgs.

Das Higgs-Teilchen ist ein Schwergewicht, es wiegt mehr als das 125-Fache eines Wasserstoffatoms, wodurch es sich für Beschleuniger nur unter äußerstem Energieaufwand herstellen lässt. Doch exakt lässt sich der Wert nicht feststellen. Das liegt nicht an den Detektoren, sondern an der Heisenberg'schen Unschärferelation, die eine Eigenschaft der Natur festschreibt, nach der wir nicht alles über ein physikalisches Objekt erfahren können.

In ihrer bekanntesten Form sagt die Unschärferelation aus, dass sich der Ort und der Impuls (oder anschaulicher und weniger präzise, die Geschwindigkeit) eines Objekts nie zugleich exakt feststellen lassen. Wer den Ort genau messen will, wird es mit sehr hohen Impulsen zu tun bekommen. Ein wenig ähnelt die Situation dem Versuch, ein feuchtes Stück Seife mit den Händen zusammenzudrücken. Es wird einem dabei entgleiten – je härter man drückt, desto schneller.

Higgs erkannte nicht sofort, dass er einen Durchbruch erreicht hatte. Ihm waren nur Unzulänglichkeiten in der bestehenden Theorie aufgefallen.
Nobel Prize

Veränderung der Masse durch die Unschärferelation

Unschärferelationen gibt es auch zwischen anderen physikalischen Größen. Hier ist ein Zusammenhang zwischen Zeit und Energie interessant. Wer Zeiten genau messen will, bekommt es mit unsicheren Energien zu tun.

Im Higgs-Teilchen äußert sich das in einem Zusammenhang zwischen seiner Lebensdauer und seiner Masse. Seine Lebensdauer konnte das CMS-Team 2021 genauer eingrenzen. Sie beträgt weniger als ein Milliardstel einer Trilliardstelsekunde, das ist eine Zahl mit 22 Nullen hinter dem Komma. Es zerfällt also nach sehr kurzer Zeit wieder in andere Teilchen.

Diese kurze Lebensdauer bringt eine hohe zeitliche Genauigkeit mit sich, die laut Unschärferelation bedeutet, dass seine Masse keinen genauen Wert haben darf. Je nach Situation messen die Detektoren des LHC also leicht unterschiedliche Werte für die Masse des Teilchens.

Wie groß diese Unsicherheit ist, hat das CMS-Team nun genauer eingegrenzt. Die Abweichung beträgt etwa 3,2 Megaelektronenvolt, bei einer Masse von 125 Megaelektronenvolt. Die Masse wird in der Teilchenphysik in Energieeinheiten angegeben, was laut Einsteins berühmtester Formel (E=mc²) ja äquivalent ist.

Der nun gemessene Wert ist etwas geringer als die theoretische Vorhersage von 4,1 Megaelektronenvolt, doch man befindet sich innerhalb der erlaubten Schwankungsbreite von etwa zwei Megaelektronenvolt.

Außerhalb der Schale nichts Neues

Die Unschärfe der Masse lässt sich auf verschiedenen Wegen messen, doch das Higgs entzieht sich den Methoden, die bisher für andere Elementarteilchen verwendet wurden. Das Team untersuchte stattdessen Reaktionen, in denen sich die Masse des Higgs in der Nähe des "eigentlichen" Werts befindet, und solche, bei denen es eine deutlich abweichende Masse hat. Letztere werden "Off-Shell"-Wechselwirkungen genannt, also außerhalb der "Schale" stattfindend, womit der Bereich rund um den theoretischen Mittelwert für die Masse gemeint ist. Ihre Untersuchung erlaubte die Bestimmung der Massenunschärfe.

Die Hoffnung auf eine Abweichung von der theoretischen Vorhersage, die auf neue Physik hindeuten könnte, erfüllte sich nicht. In Fachpublikationen ist in so einem Fall davon die Rede, dass der Bereich für abnormale Effekte "eingegrenzt" werden konnte. Der Spielraum für unbekannte physikalische Phänomene wurde also kleiner.

Peter Higgs, nach dem das Teilchen benannt ist, vor dem CMS-Detektor bei einem Besuch im Jahr 2008.
Foto: imago/Leemage

Die neuen Ergebnisse, die aus Daten von Messläufen zwischen den Jahren 2016 und 2018 gewonnen wurden, sind also für Fachleute keine wesentliche Überraschung, illustrieren aber, dass die Masse eines Objekts in der Elementarteilchenphysik ein schwer zu fassender Begriff ist. In der historischen Entwicklung der Quantenfeldtheorien, aus denen sich das Standardmodell der Elementarteilchen zusammensetzt, die derzeit dem Anspruch einer Weltformel von allen physikalischen Naturbeschreibungen am nächsten kommt, sorgte die Festlegung von Eigenschaften wie Masse oder Ladung eines Teilchens für eine veritable Krise.

Es zeigte sich, dass Quantenfelder sich nicht gut mit Wechselwirkungen vertragen und beim Versuch, physikalische Größen auszurechnen, unendliche Werte ausspucken. Ein verwirrender und anfangs umstrittener Prozess namens Renormierung löste das Problem mittels künstlich eingefügter Korrekturterme. Die so gezähmte Theorie kann mit Messwerten aus Experimenten verknüpft werden, erst danach entfernt man die Korrekturen. Heute ist der Prozess Standard, Experimente wie jene am Cern wären ohne ihn undenkbar. Ein Bereich, wo dieser Zugang nicht funktioniert hat, ist die Gravitation. Das Problem ist nach wie vor ungelöst und lässt die Fachwelt auf eine bessere Lösung hoffen, die auch die Gravitation mit einschließt.

Kompakter Detektor

Das "C" in CMS steht übrigens für "Compact", was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es sich bei ihm mit seinen 15 Metern Durchmesser und 14.000 Tonnen Gewicht um eines der größten Messgeräte aller Zeiten handelt. Kompakt ist der Detektor nur in Relation zu seinem Bruder Atlas, der auf der gegenüberliegenden Seite des 27 Kilometer Umfang messenden Tunnels sitzt und wesentlich größer ist. Die beiden haben ähnliche Messbereiche und ein breiteres Einsatzgebiet als die anderen beiden Detektoren LHCb und Alice, die sich auf bestimmte Phänomene konzentrieren. Zwei unabhängige Teams mit verschiedenen Zugängen an der gleichen Sache arbeiten zu lassen war Kalkül. So sollten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Ergebnisse vermieden werden.

Derzeit halten die beiden Großdetektoren, wenn sie nicht gerade das Higgs vermessen, Ausschau nach neuen Teilchen, etwa nach weiteren Higgs-Teilchen, von denen es eine ganze Gruppe geben könnte. Dafür wurde die Anzahl der Kollisionen in einer bis März 2022 dauernden Umbauphase verdoppelt. Der aktuellen Energieknappheit trotzt man, so gut es geht, mit Reduktionen der Messzeiten. (Reinhard Kleindl, 23.10.2022)