"Vatican Girl" heißt die Doku-Serie von Netflix, die sich mit dem rätselhaften Fall der 1983 verschwundenen, jungen Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi befasst. In der vierteiligen Serie, die seit Donnerstag zu sehen ist, werden die aufwendigen Ermittlungen zu Orlandis Fall anhand neuer Zeugenaussagen rekonstruiert.

"Diese schmerzhafte Geschichte hat die Aufmerksamkeit eines weltweiten Publikums verdient", sagte der britische Regisseur der Serie, Mark Lewis, der auch Drehbuchautor und Produzent ist, im Gespräch mit italienischen Medien. "In dieser Geschichte verflechten sich so viele Spuren, von der kirchlichen Verschwörung bis zu bulgarischen Spionen, von türkischen Terroristen über römische kriminelle Banden bis zum KGB. Es handelt sich um eine wahre Geschichte, aber sie wirkt wie ein Politthriller von Robert Ludlum, Thomas Harris oder Dan Brown", berichtete der Regisseur.

Nicht vom Musikunterricht heimgekehrt

Die 15-jährige Emanuela Orlandi war am 22. Juni 1983 nicht vom Musikunterricht heimgekehrt. Der Fall gilt als eines der größten Rätsel in der jüngeren italienischen Kriminalgeschichte. Um Orlandis Verschwinden rankten sich immer neue Spekulationen und Verschwörungstheorien, in denen teilweise auch der Vatikan eine Rolle spielt. Eine verbreitete Theorie geht davon aus, dass die Tochter eines Vatikan-Mitarbeiters von einer Bande entführt wurde, die den damaligen Chef der Vatikanbank, Paul Marcinkus, erpressen wollte. Unbewiesen ist auch eine andere Theorie, wonach Emanuela entführt wurde, um die Freilassung von Mehmet Ali Agca zu erpressen, der 1981 einen Mordversuch auf Papst Johannes Paul II. verübt hatte.

Die Netflix-Serie untersucht alle Schritte des damaligen Ermittlungsprozesses, auch dank der zum Teil brisanten Aussagen von Zeugen. Zu ihnen zählt eine damalige Freundin Orlandis, die behauptete, Emanuela habe ihr in einem Gespräch eine Woche vor ihrem Verschwinden berichtet, sie sei von einer "dem Papst sehr nahestehenden Person" sexuell belästigt worden. Emanuela war "verängstigt, sogar beschämt", sagte die Freundin, die bisher noch nie über den Vorfall berichtet hatte. Auf die Frage, warum sie bisher geschwiegen habe, antwortete sie, sie habe Angst vor den Konsequenzen gehabt.

"Schweigen ist oft das schlimmste Verbrechen"

"Das Schweigen ist oft das schlimmste Verbrechen. Es ist das Schrecklichste, was eine Familie erleiden kann", berichtete Pietro Orlandi, Emanuelas Bruder. Er ist der Ansicht, dass der Vatikan genau wisse, was mit der Teenagerin geschehen ist, wie sie starb und wo sie begraben ist. Seit 38 Jahren kämpft Orlandi unermüdlich, um herauszufinden, was seiner Schwester passiert ist. "Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu sagen. Wir werden nie aufhören, nach Emanuela zu suchen", erklärte Pietro Orlandi. Seine 92-jährige Mutter sollte wenigstens Blumen auf das Grab ihrer Tochter legen dürfen, wo auch immer es sein möge, sagte er.

Kein Kommentar des Vatikan

"Es ist an der Zeit, dass der Vatikan offenlegt, was genau passiert ist, und der Familie einen Abschluss ermöglicht. Wir haben keine Zeit zu verlieren", sagte Laura Sgró, Anwältin der Familie Orlandi. Sie wies darauf hin, dass die Schlüsselfiguren in der Affäre bereits verstorben und andere schon sehr alt seien. Der Vatikan lehnte es ab, Interviews für die Netflix-Dokumentation zu geben. Er reagierte auch nicht auf die Bitte der Medien um einen Kommentar zur Serie. (APA, dpa, 21.10.2022)