Gas kommt über die Nord-Stream-Pipelines erst einmal keines.

Foto: APA/AFP/Airbus DS 2022/Handout

Das Leck in der Gaspipeline Nord Stream 1 hat die ohnehin angespannte Energiesituation in Europa weiter verschärft. Wer hinter dem mutmaßlichen Angriff steckt, ist nicht bekannt. Was man hingegen jetzt weiß: wie verletzlich Europas Gasversorgung ist – nicht nur in wirtschaftspolitischer, auch in physischer Hinsicht. Denn letztlich sind es Rohre, durch die Gas strömt. Oder eben nicht.

Auch Strom, Daten und Wasser kommen über – letztlich angreifbare – Infrastruktur zu uns. Hybride Kriegsführung, die über die Front hinausgeht, ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Schon von jeher sind Knotenpunkte der Infrastruktur wichtige Angriffsziele von Kriegsparteien oder Terroristen. Doch solange alles gutgeht, denkt kaum jemand darüber nach, wie verletzlich unsere Infrastruktur wirklich ist.

Hohe Verlässlichkeit

Ein Phänomen, das Experten wie Alexander Fekete "Verwundbarkeitsparadoxon" nennen. Er lehrt an der Technischen Hochschule Köln Risiko- und Krisenmanagement. Gerade weil das System so reibungslos funktioniert, kracht es im Ernstfall richtig – weil eben niemand mehr vorsorgt. Das betrifft einerseits Haushalte, die kaum mehr Vorräte zu Hause haben, aber auch Unternehmen. Weil Lieferketten lange als zuverlässig galten, verzichtete man auf Lagerhaltung und produzierte nach dem Just-in-time-Prinzip.

"In den vergangenen Jahren haben wir gesehen, wie das schiefgehen kann", sagt Fekete. Die Lieferketten brachen zwar nicht zusammen, sie waren nur gelähmt – und es war auch kein Angriff, sondern ein Virus und ein im Suezkanal feststeckendes Schiff, die dafür verantwortlich waren. Aber die Situation illustrierte, wie ein einzelnes Problem global Wellen schlagen kann. Im Fall eines Angriffs könnte es etwa bei Ausfall des Stromnetzes zu weitreichenden Kettenreaktionen kommen.

Empfindlicher Strom

Das Stromnetz gilt als besonders empfindlich. Da sich Elektrizität nicht direkt speichern lässt, muss permanent gleich viel Strom eingespeist werden, wie in derselben Sekunde verbraucht wird – ein Balanceakt. Dass ein einzelner Angreifer einen Blackout provozieren könnte, hält Christoph Schuh, Sprecher von Austrian Power Grid (APG), aber für unrealistisch. Die Verbund-Tochter betreibt die Übertragungsnetze in Österreich, also jenen Teil der Stromleitungen, der große Mengen Energie vom einen in den anderen Teil des Landes schafft und für das Gleichgewicht von Produktion und Verbrauch zuständig ist.

Gas fließt in Europa hauptsächlich in eine Richtung: von Osten nach Westen. Das überregionale Stromnetz hingegen ist ringförmig angelegt, fast jeder Punkt wird von mindestens zwei Seiten versorgt, erklärt Schuh.

Blackout unwahrscheinlich

Würde eine Leitung angegriffen werden, nähme der Strom einen Umweg. Je besser das Netz ausgebaut ist, desto besser sei man auch gegen Anschläge gewappnet. Hackerangriffe auf Netzbetreiber hätten in den vergangenen Jahren zwar europaweit zugenommen, zu Betriebsunterbrechungen ist es aber bisher noch nie gekommen.

Physische Schwachstellen sind Umspannwerke und Verteilerstationen – für diese stellen Innen- und Verteidigungsministerium bei Gefahr auch Objektschutz zur Verfügung, welcher der Lage entsprechend angepasst wird. Ein Blackout, sei es aufgrund eines Unfalls, eines Fehlers oder eines Angriffs, sei in Österreich jedenfalls unwahrscheinlich.

Umspannwerke sind mögliche Angriffsziele.
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Das bestätigt auch eine aktuelle Studie, die das Parlament beim Institut für Technikfolgen-Abschätzung und dem Austria Institute of Technology in Auftrag gegeben hat. "Abseits verstärkter medialer Aufmerksamkeit für die Thematik gibt es keine klaren Belege für ein ansteigendes Risiko", heißt es dort.

Wassernetz ist oft sichtbar

Auch das Wassernetz ist angreifbar. Anfang 2021 erhöhte ein unbekannter Hacker in einer Wasseraufbereitungsanlage in Florida den Anteil von Natronlauge um das Hundertfache. Die Chemikalie wird beigemischt, um die Leitungen vor Korrosion zu schützen. In kleinen Mengen ist Ätznatron unbedenklich, im konkreten Fall hätte die Dosis aber zu Verätzungen geführt – wenn ein aufmerksamer Mitarbeiter die Sabotage nicht entdeckt hätte.

In Wien werden dem Wasser keine Chemikalien zugesetzt, auch sei die Wasserversorgung komplett vom Internet getrennt, betont Paul Hellmeier, Leiter der Magistratsabteilung Wiener Wasser. Die Risiken habe man trotzdem im Blick. Denn Tatsache ist, dass die Wasserinfrastruktur im Gegensatz zu Datenleitungen oft als solche erkennbar sei, etwa an den 130 Aquädukten, die das Wasser auf seiner Reise nach Wien durchfließt.

Grundwasserwerke springen ein

Die Wasserqualität werde durchgehend online überwacht. Sollte es zu einer Kontaminierung des Wassers durch einen Unfall oder einen Angriff kommen, würde bei Wiener Wasser schnell ein Alarm losgehen. Angenehm sei das nicht, sagt Hellmeier, aber auch keine Katastrophe. Je weiter der Schaden von den Endkunden entfernt ist, desto leichter lassen sich Gegenmaßnahmen einleiten.

Bevor das Wasser in Wien ankommt, durchfließt es dutzende Kilometer langes Rohrnetz – ein Teil davon ist öffentlich.
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Das Wasser aus den Hochquellleitungen, die Wien im Normalfall versorgen, könnte dann schnell durch Wasser aus rund 100 Wasserspendern ersetzt werden. Für den Notfall, aber auch für den Fall von Reparaturen, verfügt Wien außerdem über Grundwasserwerke, die dann zum Einsatz kämen. Der einzige Nachteil: Das Wasser schmeckt anders als das gewohnte Hochquellwasser.

Kein System ist sicher

"100 Prozent sicher ist aber kein System, das weiß jeder", sagt der Sicherheitsexperte Fekete. Beim Schutz kritischer Infrastruktur sei es international deshalb zu einem Paradigmenwechsel gekommen. Anstatt voll auf Gefahrenabwehr zu setzen, konzentriere man sich eher auf Resilienz – also die Fähigkeit, bei Ausfällen handlungsfähig zu bleiben und den Schaden schnell zu beheben. So wie kürzlich in Deutschland: Als ein unbekannter Angreifer Anfang Oktober wichtige Signalkabel der Bahn durchtrennte, stand der Schienenverkehr zwar kurzzeitig in großen Teilen Norddeutschlands still – doch nur wenige Stunden.

Die EU-Kommission drängte diese Woche jedenfalls darauf, den Schutz kritischer Infrastrukturen noch weiter zu erhöhen. Dazu will die EU auch die Zusammenarbeit mit der Nato vertiefen. (Philip Pramer, 24.10.2022)