Das Werk mit Allover-Struktur "Bald Eagle" schuf Lee Krasner aus einem zerschnittenen Dripping-Bild ihres Ehemannes Jackson Pollock.
Foto: Pollock-Krasner Foundation / Bildrecht, Wien 2022

Idealerweise lässt man sich bei der ersten Gelegenheit auf einer Sitzbank in den weitläufigen Ausstellungsräumen der Albertina modern nieder. Denn die hier versammelten abstrakten Giganten verlangen Betrachtenden alles ab. Mit ihren großformatigen Leinwänden von bis zu zehn Metern Breite nehmen sie einen vollends ein – ein Blick genügt keinesfalls. Farben und Formen unterliegen keinerlei Regeln und Hierarchien. In der fulminanten Herbstausstellung Ways of Freedom regiert – wie der Titel bereits verrät – die Freiheit.

Die fluiden Farben bei der US-amerikanischen Malerin Helen Frankenthaler schwappen scheinbar gleich im ersten großen Saal aus dem Bild und sickern zugleich in den Hintergrund. Blautöne plätschern an den Rändern, das Gelb häuft sich zu leuchtenden Sanddünen auf. Mit ihren fast transparenten Konturen erinnern die Werke der Entwicklerin der Soak-Stain-Technik ästhetisch an gigantische Aquarelle. Anfang der 1950er-Jahre brachte Frankenthaler mit ihrem Verfahren, bei dem sie am Boden liegende Leinwände mit stark verdünnter Farbe begoss und diese dann über die Oberfläche laufen ließ, Elemente des Action-Paintings und der Farbfeldmalerei zusammen und erweiterte so den Abstrakten Expressionismus.

Bedeutender Einfluss: Die US- Malerin Helen Frankenthaler vereinte mit ihrer Soak-Stain-Technik Elemente von Action-Painting und Farbfeldmalerei.
Foto: Helen Frankenthaler Foundation, Inc. / Bildrecht, Wien 2022

In perfekter Symbiose teilt sich die New Yorkerin den Ausstellungsraum mit den zwei österreichischen Malerei-Granden Wolfgang Hollegha und Maria Lassnig. Seine leichten Farbformationen schuf der Kärntner Hollegha ebenfalls durch Schüttvorgänge auf am Boden liegende, weiße Leinwände. Lassnigs Große Knödelfiguration weist hingegen weniger bunte Fläche und mehr Linie auf. Im Hintergrund pulsieren aber ähnlich wie bei ihren Zimmerkollegen subtile Farbstrukturen, die fast körperlich an die Oberfläche drängen. Angst vor der leeren Fläche und der Zweidimensionalität hatte jedenfalls keiner der drei.

In Maria Lassnigs "Große Knödelfiguration" pulsieren subtile Farbstrukturen im Hintergrund, die fast körperlich an die Oberfläche drängen.
Foto: Maria Lassnig Stiftung / Bildrecht, Wien 2022

Komplett neues Bildverständnis

Die von Albertina-modern-Direktorin Angela Stief kuratierte Schau widmet sich elegant und pointiert dem Wechselspiel zwischen dem Abstrakten Expressionismus der New York School in den USA sowie der in Europa vorherrschenden informellen Malerei – und webt österreichische Positionen auf Augenhöhe ein. Anhand von insgesamt 85 Werken wird der Wendepunkt der modernen Malerei nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich gemacht. In Kontrast zu der Wirklichkeitsnähe des Sozialistischen Realismus in kommunistischen Ländern sowie der Ästhetik des Nationalsozialismus wandten sich die Avantgardekünstlerinnen und -künstler von allem Gekannten ab. Nach 1945 brachen sie mit den bis dahin geltenden Konventionen und schufen ein komplett neues Bildverständnis.

Jackson Pollock avancierte in den 1950er-Jahren mit seinen ikonischen Drip-Paintings zu einem der bekanntesten Vertreter des Action-Paintings.
Foto: Pollock-Krasner Foundation / Bildrecht, Wien 2022

Dies beweisen Meisterwerke des wohl bekanntesten Paares des Abstrakten Expressionismus: Einander gegenübergestellte Gemälde von Jackson Pollock und Lee Krasner machen vor, was All-over-Strukturen bedeuten. Weder gibt es ein Zentrum, noch oben und unten, die Kompositionen scheinen grenzenlos. Pollock avancierte in den 1950er-Jahren mit seinen ikonischen Drip-Paintings zu einem der bekanntesten Vertreter des Action-Paintings, während Krasner nur wenig Aufmerksamkeit zukam. Dass eines ihrer Werke, das sie aus einem zerschnittenen Dripping-Bild ihres Ehemannes schuf, neben dem Eingang der Ausstellung Wache hält, ist als wertschätzender Kommentar zu verstehen.

Selbstverständliche Korrektur

Generell sind in der Auswahl Angela Stiefs mit 13 von 33 Positionen zahlreiche Künstlerinnen wie Elaine de Kooning, Joan Mitchell oder Mary Abbott vertreten. Ihre Werke werden aber nicht in einem eigenen Kapitel untergebracht, sondern Seite an Seite mit ihren Kollegen. Genauso wie in frühen Ausstellungen der Abstrakten Expressionisten, wo die Pionierinnen zwar in der Unterzahl, aber genauso präsent und wichtig waren. Ein Schwerpunkt, der nicht gezwungen erscheint, sondern eine Korrektur in der Kunstgeschichte vornimmt – und zwar selbstverständlich.

Der Franzose Georges Mathieu gestaltete sein abstraktes Schlachtengemälde mit Farbe direkt aus der Tube 1959 in einer theatralischen Malaktion in Wien.
Foto: Bildrecht, Wien 2022

Genauso gelungen verflochten werden österreichische und internationale Positionen auf Augenhöhe präsentiert: Nach vibrierender Farbfeldmalerei von Meister Mark Rothko begegnen sich in überraschender Harmonie schwarze Übermalungen vom Mitbegründer des Informel in Österreich, Arnulf Rainer, und Formen im Stil japanischer Kalligrafie von US-Maler Franz Kline. Anschließend an das abstrakte Schlachtengemälde mit Farbe direkt aus der Tube, das der Franzose Georges Mathieu 1959 in einer Malaktion in Wien schuf – er galt als europäisches Pendant zu Pollock –, gipfelt die Schau in der monumentalen Arbeit von Markus Prachensky. In impulsiven Aktionen brachte er mit gestisch-abstraktem Duktus literweise Rot auf weißen Grund – und ließ die Kraft der reinen Farbe sprechen. (Katharina Rustler, 22.10.2022)