Je authentischer, desto besser? Zumindest ein bisschen Fassade in der Arbeit schadet nicht.
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Wäre der Arbeitsplatz ein Tatort, dann könnte man diese Geschichte mit der bekannten Redewendung der Brenner-Krimis beginnen: Jetzt ist schon wieder was passiert. Wobei, pass auf, es war in Wirklichkeit eine schleichende Entwicklung.

Früher hatte man eine Arbeitsstelle, in der gab es Dienstzeiten, und zu diesen Zeiten war man im Geschäft oder Büro oder was halt die Arbeitsstelle war. Meist war das Montag bis Freitag von 9 bis 17 Uhr, oder wenn es in der Früh pressierte, schon um 8 Uhr und hörte dafür um 16 Uhr auf. Manche Kollegen kamen dann schon um halb 8 oder gar um 7, weil da der Parkplatz vor der Arbeitsstelle quasi garantiert und gratis war, und dann trank man bis zum Arbeitsbeginn den Kaffee aus der mitgebrachten Thermos.

Sogar der Herr Generaldirektor, damals konnte man sich mit Sicherheit noch das heute so wichtige Gendern ersparen, hielt sich an solche Zeiten. Weil leicht verständlich: Die Arbeit mussten ohnehin die anderen machen, warum sollte dann ausgerechnet der Chef früher kommen oder später gehen? Und in der Arbeit war man der Herr Karl aus der Disposition oder die Frau Fini aus der Lohnverrechnung, viel mehr war nicht bekannt. Höchstens noch, wenn der Lehrling eine neue Freundin hatte und darum den Betriebsschluss gar nicht erwarten konnte. Oder wenn der Sohn oder die Tochter von der Frau Fini die Matura geschafft hat, da durfte gratuliert werden.

Corona verstärkt den Wandel

Aber irgendwann kam dann diese Geschichte mit der Work-Life-Balance ins Rollen, oder ist es jetzt die Life-Work-Balance, und macht das einen Unterschied? Aus der Lohnverrechnung wurde längst eine ganze HR-Abteilung, die sich um die Bespaßung der (potenziellen) Mitarbeiter:innen (jetzt aufpassen!) kümmern musste, um die "Talente" zu finden und zu halten. Die Generationen X, Y, Z brauchten Off-Sites um sich persönlich besser kennenzulernen, für die älteren Semester mussten Awareness-Seminare her, um zu erklären, wie das mit den Gefühlen der X, Y, Z ist und worauf alles Rücksicht zu nehmen sei. Überhaupt, Gefühle am Arbeitsplatz: Sind okay! Sei authentisch! Sei ganz du selbst!

HR-Abteilungen müssen jetzt auch "bespaßen".
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Und dann setzte Corona diesem Selbstfindungstrip am Arbeitsplatz die Krone auf, schon der Name ließ es ahnen. Plötzlich mit der Kamera in der Küche der Kollegen und Kolleginnen, Chefinnen und Chefs, da ergaben sich schon viele persönliche Einblicke, von der Katze auf dem Arbeitstischchen bis zum Zoom-Bombing durch die Kinder.

HR-Abteilungen entwarfen jetzt Pläne, mit welchen Goodies sie nach Ende der Lockdowns die Belegschaft wieder ins Büro locken könnten. Es stellte sich heraus, die eine Hälfte wollte gar nicht mehr ins Büro, Homeoffice quasi urmegasuper. Nur die andere Hälfte brauchte endlich Tapetenwechsel, ehe ihnen die viel zu kleine Decke auf den Kopf fiel. Und dann gibt es da angeblich noch die große Resignation derer, die überhaupt nicht mehr arbeiten wollen, remote hin oder her.

Zwischen schlechten Dates und Kinderfotos

Wie sind wir nur in dieses Schlamassel gekommen, dass Arbeit unser ganzes, erfülltes Leben sein soll? Vielleicht finden wir Antworten bei Karl Marx und bei Google. Nicht durch eine Suche, sondern durch den Besuch am Campus Googleplex, dessen Arbeitskultur in den 2000er-Jahren die Mutter aller späteren Versionen des "neuen Arbeitens" wurde.

Bleiben wir zuerst bei Karl und seiner Theorie der Entfremdung. Obwohl aus seiner familiären Herkunft jüdisch geprägt, übernahm er die protestantische Ethik der Preußen, denen nach den Napoleonischen Kriegen das katholische Rheinland zugefallen war. Für Karl (ja, wir leben in der Du-Kultur!) bestand die Verwirklichung des Menschen in seiner Arbeit, eine den Ansprüchen unserer heutigen Arbeitswelt durchaus sympathische Philosophie.

Mit einem kleinen Problem, das Karl als Entfremdung bezeichnete: Das Produkt der Arbeit gehört nicht dem arbeitenden Menschen, sondern seinem "Arbeitgeber". Gearbeitet wird darum nicht mehr aus Freude an der Herstellung eines Produkts, das einem dann gar nicht mehr gehört, sondern um Geld für das eigentliche Leben zu verdienen. Und schon ist dank Entfremdung die Freude am Arbeiten dahin, sinkt die Produktivität, macht das Unternehmen weniger Gewinn.

Selbstverwirklichung durch Arbeit

An dieser Stelle, da uns die Lust am Arbeiten dank Entfremdung längst vergangen ist, betreten zwei Doktoratsstudenten voller bubenhaftem Charme und exzellenter Ausbildung als Computerwissenschafter die Bühne der Arbeitswelt. In Kalifornien, schon seit den 1960er-Jahren das Weltzentrum der Selbstverwirklichung, leben sie Karls Traum, wonach sich der Mensch durch das Produkt seiner Arbeit verwirklicht. In ihrem Studentenheim schreiben sie den Code für die Suchmaschine, aus der Google geboren wurde. Für die beiden ist das nicht einmal Arbeit: Die Freunde haben einfach einen Riesenspaß an der Sache, mit der angenehmen Nebenwirkung von Aktienanteilen. Und eh man sich's versieht, entsteht aus dem Spaß eines der fünf wertvollsten Unternehmen der Welt. Die beiden ehemaligen Studenten sind inzwischen zwei von nur acht "Zentimilliardären" – Menschen mit einem Vermögen von mehr als 100 Milliarden US-Dollar. Wenn das nicht der überwältigende Beleg für die Selbstverwirklichung durch Arbeit ist, dann gibt es keinen.

Die Gründungslegende will, dass wie einst Sergey Brin und Larry Page im Googleplex alle Spaß an der Arbeit haben. Volle Getränkekühlschränke und Pizza rund um die Uhr, Volleyball-Courts, Feuerwehrrutschen und Liegestühle, gemütliche Ecken statt Schreibtische, Ruheräume mit Zen-Musik, Kleiderreinigung am Arbeitsplatz, Gratis-WLAN-Busse für Pendler: Google & Co wurden zum Idealbild, wie Work-Life-Balance auszusehen hat.

Work-Life-Balance: Ist alles persönlich und alles professionell?
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Sheryl Sandberg, bis August 2022 Chief Operating Officer des Facebook-Mutterkonzerns Meta, brachte die Ideologie des selbstverwirklichten Arbeitens auf den Punkt: "Bringen Sie Ihr ganzes Selbst zur Arbeit. Ich glaube nicht, dass wir von Montag bis Freitag ein professionelles Selbst und den Rest der Zeit ein echtes Selbst haben. Es ist alles professionell, und es ist alles persönlich." Die neue Work-Life-Balance: Arbeit rund um die Uhr. Zwischendurch darf man den Mann oder die Frau privat anrufen, um zu sagen, dass man schon im Büro ein Haubenmenü eingenommen hat.

Das ganze Selbst im Büro

Aber was ist das, dieses ganze Selbst, das wir zur Arbeit bringen sollen – das Prinzip Unordnung oder auch Pedanterie, das man in den eigenen vier Wänden pflegt, schlechte Laune nach einem missglückten Date, alle Kindervideos vom Urlaub, gemeinsame Wochenenden zum Teambuilding? Kolleginnen und Kollegen kann man sich nur begrenzt aussuchen, nicht jedes Team entwickelt sich zu besten Freund:innen, und das ganze Selbst des einen kann schnell mit dem ganzen Selbst der anderen kollidieren.

Dabei haben wir – mit großem Aufwand – in unserem Leben viele Rollen für unterschiedliche Kontexte gelernt. Kolleginnen und Kollegen haben vielleicht wenig Bock darauf, das verliebte Selbst einer Partnerschaft oder das elterliche Selbst von Müttern und Vätern in Besprechungen ertragen zu müssen. Oder gar die Empathie des ganzen Chef-Selbst, dem beim Kündigungsgespräch die Tränen kommen, weil sein Job auch unangenehme Seiten hat.

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Mit großem Aufwand haben wir Rollen eingeübt – was ist dann dieses ganze Selbst?
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Vielleicht ist die (angeblich) neue Welle des "quiet quitting" das erste Anzeichen einer gesunden Entkoppelung von Arbeit und privatem Leben, der Entwirrung von Work und Life zur Herstellung unserer ganz persönlichen Balance. Man kann einen 20-, 32-, 40-Stunden Job engagiert machen, ohne mit dem Ziehen einer Zeitgrenze die Verantwortung für seine Arbeit abzugeben. Büros sind keine Wohngemeinschaften und kein Ersatz für Freunde, Partnerschaften oder Familie. Womit nicht ausgeschlossen ist, dass man auch all dies im Büro und nicht nur auf Tinder oder Okcupid finden kann.

Die Grenzen der Verantwortung

Arbeitgeber haben eine große Verantwortung für ihre Mitarbeiter: Unternehmensziele und Aufgaben, mit denen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weitgehend identifizieren können. Anständiger – im HR-Jargon "wertschätzender" – Umgang miteinander. Eigenverantwortung bei der Erfüllung von Aufgaben übertragen. Vertrauen in die Arbeit von Mitarbeitern auch im Homeoffice oder bei flexiblen Arbeitszeiten. Eine inspirierende Bürowelt, aber kein Abenteuerspielplatz (volle Getränkekühlschränke und gesunde Snacks schaden nicht). Das ganze Selbst zu erwarten oder gar zu fordern gehört jedoch nicht zu dieser Verantwortung.

Für die Integration der vielfältigen Rollen im Leben zu einem Ganzen bleibt jede und jeder selbst verantwortlich. Wozu man manchmal Hilfe braucht, dafür gibt es Freunde, Partner, Lebensberater und Therapeutinnen: Aber nicht den Arbeitgeber. Manche wohlmeinenden Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern zwar Beratungsdienste bei persönlichen Krisen und preisen dies gern als Benefit an. Besser wäre ein Entgelt, mit dem man sich bei Bedarf professionelle Unterstützung zur Herstellung des ganzen Selbst leisten kann. Vorsicht übrigens vor dem professionellen Helfer, ob Handwerker oder Therapeut, der sein ganzes Selbst mitbringt. (Helmut Spudich, 4.11.2022)