Foto: Malofeev

Es gibt so Abende, da werden die Uhren neu gestellt. Was vorher war, ist Geschichte. Ab jetzt: alles neu.

Der Auftritt von Alexander Malofeev am Samstag im Musikverein war so ein Abend: eine Klavierweltrevolution. Alain Altinoglu und das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks sollten ihre beiden Wien-Konzerte mit zwei der aufregendsten jüngeren Pianisten dieser Jahre bestreiten: mit Khatia Buniatishvili (35) und mit Daniil Trifonov (31). Die gebürtige Georgierin musste krankheitsbedingt absagen, Altinoglu kontaktierte einen jungen Mann mit semmelblonden Haaren, der vor einem Monat in der Alten Oper Frankfurt als Ersatz für Jewgenij Kissin gefeiert worden war: Alexander Malofeev. Der 21-Jährige, gerade auf Tournee in den USA, setzte sich in einen Flieger, mit den Noten von Rachmaninows drittem Klavierkonzert im Gepäck. Der Rest ist jetzt schon legendär.

Beglücktes Geschrei

Nach dem Finale flutete ein Glücksrausch den Musikvereinssaal. Stehender Beifall und beglücktes Geschrei – so muss es sein, wenn Wolfgang Sobotka als Nationalratspräsident zurücktritt. Zuvor hatte Malofeev den Finalsatz mit einer unaufhaltsamen Unerbittlichkeit, einer positiven Besessenheit begonnen, mit einem Fortissimo, das in einem lodernden inneren Feuer geschmiedet wurde. Einen auf angeberischen Ballermann zu machen würde dem in Moskau ausgebildeten Pianisten nicht in den Sinn kommen, seine Interpretation ist von einem steten emotionalen Ernst getragen. Schmachtfetzenproduzent Rachmaninow? Nicht bei Malofeev. Wie mit Zauberhand schuf der Künstler zwischendurch schwebende, fast surrealistisch wirkende Klangwelten. Und das Finale des Finales: wie wenn eine Staffel Überschallflugzeuge über den Musikvereinssaal gebrettert wäre – betankt nicht mit Kerosin, sondern mit purer Euphorie.

Dabei hatte Malofeev das ausladende d-Moll Konzert komplett gegensätzlich begonnen: ernst, ja fast kühl präsentierte er das schlichte, lang gesponnene erste Thema, sachlich auch noch die begleitenden Arabesken danach. Ein verschlossener Künstler? Weit gefehlt. Das lyrische Thema, feinster Rachmaninow, gab der Russe noch versonnen, ruhig, ganz auf Understatement. Dann ließ er die Melodiestimme erstmals aufblühen, und die Sache wuchs sich in gepflegter Art und Weise zu großgriffiger, mit Samt gefütterter Wehmut aus.

Radikalität, so hart wie zärtlich

Aber dann. Wie ein Gewaltakt brach die Kadenz in die wohligen Klangwelten ein. Malofeev begann sie hart und herb: ein existentialistisches Ringen, das sich zu brutaler Radikalität steigern sollte. Eine Vergewaltigung in Tönen. Hatte man sich vom Schock erholt, besänftigte der Pianist die malträtierten Nerven mit der Es-Dur-Ausgabe des lyrischen Themas, so zart und intim wie die unschuldigste Liebe.

Wie bei allen ganz großen Pianisten hatte man bei Malofeev den Eindruck, dass ihm die schlafwandlerische Selbstverständlichkeit im Gebrauch der technischen Mittel ein spontanes, kinderleichtes Spiel mit den Dingen erlaubt. Er spielt keine Noten, er schafft emotionale Wirklichkeiten, die so zauberhaft, so vielfältig und intensiv sind, dass es einem den Boden unter den Füßen wegzieht und den Atem raubt. Dabei blickt er oft ganz offen und entspannt ins Publikum, wirkt völlig frei. Optisch erinnert Malofeev weniger an einen klassischen Pianisten als an einen Leadsänger einer New-Wave-Band, der sich versehentlich auf ein Konzertpodium verirrt hat und hier jetzt halt sein Ding durchzieht.

Der Steinway klang wie ein Hackbrett

Die Euphorie war noch längst nicht abgeebbt, als Malofeev zwei Zugaben gab. Der Steinway klang nach der Konfrontation mit diesem Ausnahmekünstler leider nur noch wie ein verstimmtes, kaputt geschossenes Hackbrett. Egal. Weil es unmöglich gewesen wäre, nach dieser Klavierweltrevolution mit einigermaßen klarem Klopf und ruhigem Herzen der zweiten Konzerthälfte zu folgen, muss an dieser Stelle ein Bericht über Strawinskys Jeu de cartes und Skrjabins Le Poème de l’extase entfallen.

Malofeev hat 2014 die Jugend-Ausgabe des Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerbs gewonnen, mittlerweile lebt der Pianist nach Angaben des Hessischen Rundfunks in Berlin. Er tourt mit renommierten Orchestern um die Welt, in diesem Jahr debütierte er bei den Sommerfestivals von Verbier, Tanglewood und Aspen. Am 29. November ist Malofeev im Brucknerhaus Linz mit einem Soloabend zu erleben. Und spätestens in der nächsten Saison hoffentlich wieder in Wien. (Stefan Ender, 23.20.2022)