Hipparchos, der Begründer der modernen Astronomie, auf einem Kupferstich von Dirck Rembrantz van Nierop aus dem Jahr 1658.

Dirck Rembrantz van Nierop, Wellcome Collection, gemeinfrei

Ein mittelalterliches Pergament, das aus einem ägyptischen Kloster stammt, hat einen einzigartigen Schatz ans Tageslicht gebracht: Mittels aufwendiger Methoden konnten Forscher auf dem Palimpsest höchstwahrscheinlich Teile eines legendären und seit vielen Jahrhunderten gesuchten Texts der Antike sichtbar machen. Es dürfte sich nämlich um Fragmente des vor rund 2.150 Jahren entstandenen Sternenkatalogs von Hipparchos handeln.

Dieser griechische Astronom, der im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte, gilt als der Vater der wissenschaftlichen Sternenkunde. Hipparchos entwickelte eine Methode, um die Positionen von Sternen durch ein System mathematisch-geometrischer Koordinaten zu beschreiben. Überlieferungen zufolge soll er schon im Jahr 130 vor unserer Zeitrechnung auf diese Weise den ersten umfassenden Sternenkatalog der Antike erstellt haben.

Hipparchos und Ptolemäus

Eines der wenigen indirekten Zeugnisse seiner Pioniertat waren bisher Verweise in dem 300 Jahre später erschienenen Himmelskatalog "Almagest" des alexandrinischen Astronomen Ptolemäus. In der Einleitung dieses Werks heißt es, dass Hipparchos der "größte Liebhaber der Wahrheit" gewesen sei und dass er dessen Sterndaten übernommen habe. Doch direktere Hinweise fehlten bislang.

Die Beziehung zwischen Hipparchos und Ptolemäus war aber immer umstritten. Einige Gelehrte haben behauptet, dass der Katalog des Hipparchos nie existiert habe. Andere (angefangen mit dem Astronomen Tycho Brahe im 16. Jahrhundert) argumentierten, dass Ptolemäus die Daten von Hipparchos gestohlen und als seine eigenen ausgegeben habe.

Manuskript aus dem Katharinenkloster

Das Manuskript, das den Sensationsfund enthält und Hinweise auf Hipparchos' Sternenkatalog gibt, stammt aus dem griechisch-orthodoxen Katharinenkloster auf der Sinai-Halbinsel in Ägypten.

Das Katharinenkloster am Fuße des Berges Sinai.
Foto: Mark A. Wilson (Department of Geology, The College of Wooster), gemeinfrei

Die meisten der 146 Blätter dieses sogenannten Codex Climaci Rescriptus befinden sich heute im Besitz des Bibelmuseums in Washington. Dieser Codex besteht aus einer Sammlung syrischer Texte aus dem zehnten oder elften Jahrhundert, ist jedoch ein Palimpsest: Es handelt sich also um ein Pergament, das vom Schreiber zuerst von älteren Texten "gereinigt" wurde, damit er es wiederverwenden und überschreiben konnte.

Dass es sich beim fraglichen Pergament um ein Palimpsest handelte, war schon länger vermutet worden. Deshalb bat der britische Bibelwissenschafter Peter Williams (Universität Cambridge) vor zehn Jahren seine Studenten, die Seiten im Rahmen eines Sommerprojekts zu untersuchen. 2012 vermutete man noch, dass es ursprünglich ältere christliche Texte enthalten haben könnte. Doch Jamie Klair, einer der Studierenden, entdeckte unerwartet eine Passage in griechischer Sprache, die oft dem Astronomen Eratosthenes zugeschrieben wird.

Modernste Bildgebungsverfahren

Im Jahr 2017 wurden die Seiten dann mit modernster multispektraler Bildgebung neu analysiert. Forscher der Early Manuscripts Electronic Library in Rolling Hills Estates, Kalifornien, und der University of Rochester in New York nahmen 42 Fotos von jeder Seite in verschiedenen Lichtwellenlängen auf und suchten mithilfe von Computeralgorithmen nach Kombinationen von Frequenzen, die den verborgenen Text hervorheben.

Sichtbar gemachte Textstellen im Codex Climaci Rescriptus.
Fotos: Museum of the Bible

Neun der solcherart neu entzifferten Blätter enthielten astronomische Texte, die (nach der Radiokohlenstoffdatierung und dem Stil der Schrift) wahrscheinlich im fünften oder sechsten Jahrhundert niedergeschrieben wurden. Dazu gehören Mythen über den Ursprung der Sterne von Eratosthenes und Teile eines berühmten Gedichts namens "Phaenomena" aus dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

Verräterische Sternkoordinaten

Bei der Durchsicht der Bilder bemerkte Williams dann aber noch etwas viel Ungewöhnlicheres, nämlich Sternkoordinaten. Er nahm deshalb Kontakt mit dem Astronomiehistoriker Victor Gysembergh vom französischen Forschungszentrum CNRS in Paris auf, der sofort Feuer und Flamme war: Gysembergh entzifferte mit seinem Kollegen Emmanuel Zingg (Sorbonne) eine Passage, die etwa eine Seite lang ist. Wie das Forschertrio im "Journal for the History of Astronomy" berichtet, gibt dieses Fragment die Länge und Breite des Sternbilds der Nördlichen Krone (Corona borealis) in Grad an und enthält Koordinaten für die Sterne im äußersten Norden, Süden, Osten und Westen.

Doch warum vermuten die Forscher, dass es sich bei dieser Passage um eine astronomische Ortsangabe von Hipparchos handelt? Dafür gibt es zumindest zwei Indizien: Zum einen deutet die eigenwillige Art und Weise darauf hin, in der einige der Daten ausgedrückt werden. Zum anderen ermöglicht die Präzision der Messungen, die Beobachtungen zu datieren. Aufgrund der von Hipparchos erstmals beschriebenen Präzession verschiebt sich die Position der Fixsterne am Himmel langsam, was den Forschern half, das Jahr der Beobachtungen zu ermitteln: Die Koordinaten würden für das Jahr 129 vor unserer Zeitrechnung passen – also für jene Zeit, in der Hipparchos tätig war.

Die Forscher hoffen, dass sie mit der Verbesserung der bildgebenden Verfahren weitere Sternkoordinaten aufdecken werden, sodass sie einen größeren Datensatz untersuchen können. Mehrere Teile des Codex Climaci Rescriptus sind noch nicht entziffert worden. Möglicherweise sind in der Bibliothek des Katharinenklosters, die mehr als 160 Palimpseste enthält, noch weitere Seiten des Sternkatalogs erhalten. (Klaus Taschwer, 24.10.2022)