In Würde ergraut: Robert Smith gastierte mit The Cure in der Wiener Marx-Halle.

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Manche Rechnungen sollte man vielleicht gar nicht erst anstellen: Fast 33 Jahre liegen zwischen den zwei vom Autor besuchten Konzerten von The Cure. Damals war man von der Dauer des Konzerts richtig gefordert – Jugend, ha! Nach ungefähr zwanzig Liedern, irgendwo im Zugabenblock, fühlte man sich 1989 in der Wiener Stadthalle leicht ermattet.

Das steht man heute leichter durch. Denn Robert Smith, der inzwischen 63-jährige Sänger mit den verlässlich zerzausten, angegrauten Haaren, tut es schließlich auch. Cure-Konzerte sind keine routinierten Greatest-Hits-Veranstaltungen, sondern aufrichtiger Dienst am Publikum, an den Fans.

Wohliger Pessimismus

Die Wiener Marx-Halle hatte man zuletzt zu einer Corona-Aufrischungsimpfung aufgesucht. Das passte gut ins Bild dieses Abends. Gemeinsam mit einer Band, die den melancholischen Seiten des Lebens deutlich mehr Aufmerksamkeit schenkt, teilt man hier so etwas wie wohligen Pessimismus. Der Abend begann denn auch mit Alone, einer neuen Nummer aus dem noch unveröffentlichten Album Songs of a Lost World. Einsamkeit als kollektiv geteiltes Gefühl, am Screen hinter der Bühne der gemarterte Erdball. Gebannt war man gleich dadurch, dass Smiths so helle, klagende Stimme die Zeit völlig unbeschadet überstanden hat.

Nostalgie haben The Cure nicht nötig, graue Haare und andere körperliche Veränderungen, geschenkt! Smith schöpft aus einem reichen Katalog, ein paar der größten Hits (Lullaby, Close to Me, natürlich Boys Don’t Cry) spart er sich für den letzten Zugabenblock auf. Disintegration, das große Album von 1989, ist immer noch prominent vertreten, aber nicht mehr so zentral wie bisher auf dieser Tournee. The Head on the Door überholt in Erdberg links, ein paar der besten Titel kommen daraus – ein poppig angelegtes Push oder Kyoto Song, ein intensiv und doch zartfühlend interpretiertes frühes Highlight vor Kabuki-Schattentheater-Visuals.

Große Spielfreude

Smith kommuniziert wenig in Worten – und wenn doch, wird es zur harten Listening Comprehension –, aber das muss er auch nicht. Bei Play for Today singt das Publikum schon euphorisch die Melodie des Keyboards mit, bevor sich der Song zu entfalten beginnt. Das eigentlich Verblüffende dieses Abends bleibt die Spielfreude, wiederholt gibt es akustische Erweiterungen, elektrisierende Dialoge zwischen Smith und dem Gitarristen Reeves Gabrels. Das Loop-artig vor sich hintrabende From the Edge of the Deep Green Sea und Endsong, eine neue Nummer, die mit viel Seelenschmerz ins Ungewisse aufbricht, bilden ein novembertaugliches Finale vor den "Encores".

"Solange es eine Band wie diese gibt, ist unsere Welt noch nicht verloren", postete Tococtronic-Bassist Jan Müller nach dem Konzert in Berlin, und: "So ein schöner Mann!" Man muss ihm recht geben. Selbst wenn Songs wie Charlotte Sometimes oder A Forest längst in die eigene DNA eingegangen sind – man fühlte an diesem Abend die Gegenwärtigkeit dieser Musik. Das Publikum war begeistert, die Generationen schienen versöhnt. 33 Jahre sind ein Tag. (Dominik Kamalzadeh, 24.10.2022)