Ein Schusswechsel auf See sorgt im Koreakonflikt für neue Sorgen.

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An der Grenze zwischen den beiden Koreas wurde wieder geschossen, was ist passiert?

Die Konfrontation hat sich in der Nacht zum Montag zugetragen. Nach Angaben der südkoreanischen Behörden hat ein Handelsschiff mit dem Namen Mupho-ho jene Linie überquert, die nach internationaler Sicht die De-facto-Seegrenze zwischen Nord- und Südkorea markiert. Danach habe die Armee zehn Schüsse abgegeben, das Schiff drehte wieder ab. Erst 90 Minuten später reagierte Nordkorea und feuerte zehn Schüsse aus Raketenwerfern in Richtung Süden. Die Projektile gingen in der Pufferzone zwischen den beiden von Nord- und Südkorea kontrollierten Meeresgebieten nieder. Die nordkoreanische Agentur KCNA schilderte den Vorfall anders und ging nicht auf die Mopho-ho ein. Sie berichtete, zwei südkoreanischen Boote hätten die Linie überquert, die Warnschüsse hätten als "brüske Warnung" deren Weiterfahrt verhindert.

Was ist das eigentlich für eine Grenzlinie?

Es geht um die sogenannte Northern Limit Line (NLL) im Westen der koreanischen Halbinsel. Sie ist beim bis heute gültigen Waffenstillstand im Koreakrieg 1953 von einer Kommission der Vereinten Nationen gezogen worden. Im Laufe der Geschichte haben beide Koreas sie zeitweise nicht akzeptiert. Mittlerweile behandelt der Süden sie de facto als Grenze, der Norden aber beansprucht ein größeres Meeresgebiet.

Die Northern Limit Line gilt schon lange als möglicher Konfliktpunkt.
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Immer wieder überqueren auch Fischerboote die Linie, weil es in der Region reiche Krabbengründe gibt. In der Vergangenheit hatten sich dort auch schwere Zusammenstöße ereignet, ein Gewaltausbruch 1999 kostete rund zwei Dutzend nordkoreanische Seeleute das Leben. Ein 2018 geschlossenes Abkommen hat vorübergehend zu einer Beruhigung der Situation beigetragen. Nun aber steht es zunehmend auf tönernen Beinen, weil der Norden mit seinen Schüssen in die Pufferzone gegen die dort getroffenen Vereinbarungen verstoßen hat.

Zuletzt nehmen die Provokationen in Korea wieder zu – dabei standen die Zeichen doch gerade noch auf Beruhigung. Was ist passiert?

Diktator Kim Jong-un und US-Präsident Donald Trump hatten sich bei ihrem Gipfel in Singapur 2018 tatsächlich angenähert. Trump verzichtete damals auf weitere Militärmanöver mit Südkorea, der Norden zerstörte ein Atomtestgelände und verzichtete freiwillig auf weitere Kernwaffenexplosionen und Tests von Langstreckenraketen. Ein weiteres Treffen im vietnamesischen Hanoi brachte dann 2019 aber kein Ergebnis – insbesondere nicht den von Nordkorea erhofften Sanktionenerlass.

Seitdem US-Präsident Joe Biden im Amt ist, messen die USA dem Land wieder eine geringere Priorität zu, die Aussichten auf ein Abkommen sind so noch weiter gesunken. Außerdem steht Kim wegen der Corona-Pandemie und wegen Nahrungsknappheit unter Druck. Die ausgesetzten Waffentests waren darüber hinaus für den Norden immer schwerer durchzuhalten. Denn die Entwicklung neuer Rüstungsgüter – etwa Raketen oder taktische Nuklearwaffen – lief die ganze Zeit über weiter. Sie bringen nur einen Nutzen, wenn sie getestet sind. Seit rund eineinhalb Monaten schießt der Norden zu diesem Zweck zahlreiche Raketen ab. Ein weiterer Atomtest könnte womöglich bevorstehen.

Sagt das auch Nordkorea so?

Nordkorea argumentiert natürlich anders. Dort verweist man auf die heuer wieder voll angelaufenen Manöver der USA mit Südkorea. Sie werden von Pjöngjang als Vorbereitung auf eine Invasion oder einen Angriff gewertet, kurz: als Provokation.

Wieso gibt es diese Manöver?

Die USA unterhalten seit Ende des Koreakrieges Militärbasen in Südkorea, seit 1957 unter dem Dach der United States Forces Korea. In einem gemeinsamen Gremium, dem "ROK/US Combined Forces Command, haben sie die Führung. Dieses Gremium würde im Kriegsfall das Oberkommando über beide Streitkräfte – also auch über die koreanischen – erlangen. Weil die militärische Verbindung so eng ist, sind nach Sicht der beiden Staaten regelmäßige gemeinsame Manöver nötig, damit das Personal die Zusammenarbeit nicht verlernt. Immerhin wechselt auf beiden Seiten ein Großteil der Belegschaft in regelmäßigen Abständen. Die Übungen gelten aber auch als Abschreckung gegenüber möglichen Angriffen des Nordens.

Gibt es eine Aussicht auf baldige Beruhigung?

Danach sieht es eher nicht aus. Die koreanischen Streitkräfte haben in Reaktion auf die Geschehnisse am Meer am Montag eine große dreitägige Übung angekündigt. Mehr als 20 Schiffe sollen daran teilnehmen und dafür in die Nähe der Northern Limit Line versetzt werden. Außerdem gehen die meisten Fachleute davon aus, dass Nordkorea schon sehr bald einen weiteren Atomtest unternehmen wird. Sie glauben, dass das Land dann erstmals eine taktische Nuklearwaffe zur Explosion bringen wird. Diese hätte zwar eine geringere Sprengkraft als bisherige nordkoreanische Atomwaffen, wäre aber klein genug, um auf den neu entwickelten Raketen montiert zu werden.

Was sagen China und Russland dazu?

Beide lassen Nordkorea bisher gewähren. Moskau ist mit dem eigenen Krieg in der Ukraine beschäftigt und versucht zudem das Regime in Nordkorea als Verbündeten zu gewinnen. Moskau hofft auf Zustimmung in internationalen Gremien. Außerdem verdächtigen die USA Russland, von Nordkorea Waffen kaufen zu wollen.

Nordkoreanische Atomtests hatte Russland bisher immer verurteilt. Ob das in der aktuellen Situation auch noch so wäre, ist sehr zu bezweifeln. Die jüngsten Raketentest nannte das Außenamt vor Wochen bereits "verständlich".

China, dem ein gewisser Einfluss auf den Nachbarn nachgesagt wird, ist vermutlich an Ruhe in der Nachbarschaft interessiert. Dass es bisher keinen Atomtest gegeben hat, ist vielleicht auch dem soeben zu Ende gegangenen KP-Parteitag zu verdanken, den Nordkorea nicht stören wollte. Wie es danach weitergeht, ist offen. Nordkorea fühlt sich durch Russlands Vorgehen in der Ukraine womöglich bestätigt. Immerhin feuert Russland Raketen auf Wohnblöcke und droht mit Atomangriffen. Und, so der Gedanke: Wenn Moskau das kann – warum sollte Nordkorea dann nicht?

Aber was ist mit den USA?

Washington hat Seoul erst jüngst wieder die vollständige Unterstützung versichert. Vizepräsidentin Kamala Harris reiste sogar erst kürzlich ins Land. Dort versuchte sie in einer Rede die Partnerschaft zu Südkorea zu loben, sprach aber versehentlich von Nordkorea. Ein scheinbar harmloser Fehler, der aber symptomatisch für die aktuelle US-Regierung ist: Sie ist von den Krisen der Zeit voll eingenommen – für eine eingehendere Beschäftigung mit Nordkorea oder den Bedürfnissen der Südkoreaner bleibt dabei nicht immer viel Zeit. An der militärischen Unterstützung wird aber nicht gerüttelt.

Droht tatsächlich eine schwere Eskalation?

Das ist kaum vorherzusagen. Die meisten Fachleute gehen aber davon aus, dass die Krise sich auf kürzere Sicht noch zuspitzen wird. Derzeit aber stehen die Zeichen eher auf weitere Unruhe. Neben dem baldigen Atomtest halten viele auch neue Provokationen nicht für ausgeschlossen. Der Ärger um die Mupho-ho könnte nicht das Ende, sondern der Anfang einer neuen Eskalationsphase gewesen sein.

Und was bedeutet das für uns?

Außenminister Alexander Schallenberg ist gerade in Südkorea, er betont bei seinem Besuch vor allem die gemeinsamen Interessen beider Staaten. Außerdem sieht er zahlreiche Gemeinsamkeiten: Beide Länder seien muntere, gewachsene Demokratien – und beide hätten, wie er es vor Medien am Sonntag ausdrückte, eine "interessante Nachbarschaft". Zudem spielt Korea für ganz Europa eine wirtschaftlich tragende Rolle. Durch die Region führt rund ein Viertel des gesamten Welthandels. Korea ist zudem einer der größten Halbleiterhersteller. Würden Land und Region wegen eines Krieges im Chaos versinken, hätten viele Länder massive Probleme. Von der Gefahr durch die Atomsprengköpfe einmal abgesehen – und von jener, dass es dabei zu einem Zusammenstoß der USA mit China kommen könnte. (Manuel Escher aus Seoul, 24.10.2022)

Hinweis: Die Finanzierung der Reise erfolgte zum Teil durch das Außenministerium.