Sebastian Kurz hat Karl Nehammer ein fast unmöglich zu bewältigendes Erbe als ÖVP-Chef hinterlassen

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In "Inside Austria", dem gemeinsamen Newsletter von STANDARD und SPIEGEL, wird diese Woche ein analytischer Blick auf die Lage der ÖVP geworfen.

Die ÖVP steht nicht am Abgrund, sie ist schon im Absturz begriffen und klammert sich gerade noch mit ihrem kleinen Finger an der Kante fest. Die vergangene Woche war wieder einmal eine katastrophale für die österreichische Kanzlerpartei. Sie ist von endemischer Korruption betroffen, zumindest im politischen Sinn des Wortes. Es gibt eigentlich keinen schwarz-türkisen Spitzenpolitiker, keine Spitzenpolitikerinnen mehr, bei denen man keine fragwürdigen Vorgänge gefunden hat.

1. Die ÖVP hat kein unverbrauchtes Personal

Am Sonntag zog ein vermeintlich frisches Gesicht aus, um die Volkspartei und deren Parteigranden Wolfgang Sobotka (ÖVP) in ein gutes Licht zu rücken: Staatssekretär Florian Tursky. Doch selbst Tursky, der jahrelang in Tirol tätig war, bleibt von Schmids Geständnis nicht verschont. "Sebastian Kurz hat mich im April 2017 ersucht, für diesen einen Job im BMF zu finden, wobei er darauf hingewiesen hat, dass er ein guter Freund von ihm sei", sagte Schmid den Korruptionsermittlern. Geworden sei das nur deshalb nichts, weil Tursky dann beim damaligen Tiroler Landeshauptmann Günther Platter landen konnte.

Ein großer Skandal ist das angesichts der anderen Vorwürfe wohl nicht, aber es zeigt: Kaum jemand gelangte in den vergangenen zehn Jahren nicht in das Netz der Freunderlwirtschaft, das sich durch die Volkspartei zieht. Ministerinnen und Minister, Landeshauptleute, wichtige Abgeordnete: Sie alle kommen auf die eine oder andere Art vor. Ausnahmen gibt es kaum.

2. Die ÖVP macht immer weiter

Die Volkspartei zeigt nicht einmal den Ansatz eines Reformwillens, nicht einmal den Hauch eines Nach- und Umdenkens. Man nehme die Person Astrid Mair: Die ÖVP-Politikerin und Polizistin war einst im Kabinett von Karl Nehammer, als der noch Innenminister war. Ihr Lebensgefährte war damals Nehammers Generalsekretär Helmut Tomac. Dann kehrte sie nach Tirol zurück, natürlich mit Karrieresprung. "Polizei in Kufstein erstmals unter weiblichem Kommando", jubelte das Innenministerium. Jetzt wird Mair Landessicherheitsrätin, ihr Lebensgefährte Tomac Landespolizeidirektor. Da kann man die wichtigen Sicherheitsfragen in Tirol gleich am Frühstückstisch besprechen. Womöglich aber auch nicht, weil nun eine hektische Debatte über die Frage der Unvereinbarkeit ausgebrochen ist. Braucht man in der ÖVP wirklich Medien und Opposition, um so etwas zu erkennen?

3. Die ÖVP ist fast nicht zu retten

Nach mehrfachen skandalösen Enthüllungen schafft es die Partei in einem Kraftakt, ihren früheren Heilsbringer auszuschließen. Sie beauftragt wichtige Persönlichkeiten ihrer Partei damit, Compliance-Regeln auszuarbeiten, und hält Ermittlungen gegen wichtige Funktionsträger der Partei aus, ohne die Justiz anzugreifen. Nein, es geht da nicht um die ÖVP, sondern beschrieben wird die Reaktion der FPÖ auf die Ibiza-Affäre. Perfekt ist das alles innerhalb der FPÖ zwar nicht abgelaufen. Aber es ist kein Vergleich zur ÖVP, wo die meisten Beschuldigten an ihren Ämtern kleben und Institutionen angreifen.

Dazu kommt, dass der große inhaltliche Zweck für all das fehlt: Was will die ÖVP mit ihrem Festhalten an der Macht erreichen, außer an der Macht zu sein? In all den Chats, Einvernahmen und Ermittlungsakten kommt Politik an sich kaum vor. Vielmehr zeigt sich ein System der Transaktionen. Man macht dieses oder jenes, damit einem dieser oder jene "einen Gefallen schuldet". Man will mehr Budget, um mehr verteilen zu können und damit mehr Einfluss zu haben. Man verteilt Posten, damit man "steuerbare" Persönlichkeiten dort unterbringt.

4. Vertrauen ist das Fundament des Regierungshandelns

Von den Alltagssorgen der Österreicherinnen und Österreicher ist die Frage, wie jemand zum Chef der Staatsholding wurde oder ob manche parteipolitischen Studien mit Steuergeld bezahlt wurden, weit entfernt. Da gibt es drängende Themen wie Energiepreise und Pflegenotstand und schon lange reformbedürftige Bereiche wie das Bildungssystem oder die wachsende Ungleichheit.

Aber: Um auch schmerzhafte Reformen und gesellschaftliche Veränderung durchzuziehen, ist Vertrauen nötig. Dieses Vertrauen hatte einst Sebastian Kurz, er hat es völlig verschenkt. Bruno Kreisky (SPÖ) und Wolfgang Schüssel (ÖVP) haben ihr breites Mandat hingegen genutzt, um Reformen durchzusetzen.

Karl Nehammer (ÖVP) ist nicht als Spitzenkandidat seiner Partei in die Wahl gezogen; kaum ein Kanzler hatte eine schwächere Position als er. Er setzt aber auch keine Schritte, um Vertrauen wiederherzustellen. Dazu wären eine klare öffentliche Distanzierung, ein Kraftakt gegen große Teile seiner eigenen Partei nötig. So bleibt das Vertrauen in die ÖVP selbst unter ihrer eigenen (ehemaligen) Wählerschaft erschüttert. Wie Nehammer das Land so durch schwierige Zeiten führen kann, ist fragwürdig. Die Enthüllungen die eigene Partei betreffend werden nämlich bleiben – womöglich ist es nur eine Frage der Zeit, bis der nächste potenzielle Kronzeuge auftaucht. (Fabian Schmid, 26.10.2022)