Präsident Selenskyj sprach per Videoschaltung zu den Fachleuten und Politprominenten in Berlin.

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Seit Wochen bombardiert Russland nun schon die kritische Infrastruktur der Ukraine, Kraft- und Umspannwerke, Telekommunikationsanlagen sind zerstört, auch Wohnhäuser geraten ins Visier der Raketen, Marschflugkörper und Drohnen. Vom menschlichen Leid abgesehen, treffen die russischen Angriffe auch die ukrainische Wirtschaft ins Mark. In Berlin beraten sich heute Spitzenpolitikerinnen und -politiker, die Oberen der internationalen Finanzinstitutionen sowie Ökonominnen und Ökonomen, wie dem angegriffenen Land wirtschaftlich und finanziell geholfen werden kann.

Die bereits zweite Wiederaufbaukonferenz – die erste fand Anfang Juli im schweizerischen Lugano statt – soll auf die Beine stellen, was etwa die beiden Gastgeber Olaf Scholz und Ursula von der Leyen nicht ohne Pathos als "neuen Marshallplan" skizzieren. Dass dieser teuer wird, steht außer Frage. Der Gastgeber, Deutschlands Bundeskanzler Scholz, betonte gleich zu Beginn des Treffens, man werde einen langen Atem brauchen: "Der Wiederaufbau der Ukraine ist eine Generationenaufgabe, mit der man jetzt beginnen muss." Und mit "jetzt", so stellte der Kanzler klar, ist vor dem Ende des russischen Angriffskriegs gemeint.

Riesige Summen

Die Beträge, die von der Ukraine für ihren Wiederaufbau benötigt werden, belaufen sich offiziell auf aberwitzige Summen zwischen 349 Milliarden Euro, wie Weltbank, EU und Kiew im September schätzten, und 750 Milliarden Euro, wie die Ukraine in Lugano vorgerechnet hatte. Dass es dabei bleibt, ist so gut wie ausgeschlossen. Wohlgemerkt: Sie umfassen nur die Schäden, die bis zum 1. Juli entstanden sind. Die jüngsten, verheerenden Angriffe Russlands auf wichtige Infrastrukturanlagen sowie die Zerstörung ganzer Industriestädte im Donbass, etwa Sjewjerodonezk oder Lyssytschansk, sind darin noch gar nicht eingepreist.

Während konkreter Geldbedarf für den Wiederaufbau der Ukraine angesichts des nach wie vor tobenden Krieges ohnehin nicht seriös abzuschätzen ist, geht es in Berlin auch um die Frage, wer die jedenfalls nötige Hilfe überhaupt koordinieren soll: Die EU-Kommission hatte schon im Sommer eine von ihr zu leitende "Ukraine Reconstruction Platform" vorgestellt, die USA wollen den Wiederaufbau des kriegsversehrten Landes laut der Denkfabrik German Marshall Fund lieber der Gruppe der sieben größten westlichen Wirtschaftsnationen (G7) überantworten – und der EU den Löwenanteil der Finanzierung überlassen.

Kanzler Scholz (links) ist Gastgeber der zweiten Wiederaufbaukonferenz.
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Europa in der Pflicht

Als größter Waffenlieferant dürfte Washington planen, die Europäerinnen und Europäer in puncto Wiederaufbau finanziell stärker in die Pflicht zu nehmen. Und zwar in Form von Geldspritzen an Kiew, nicht etwa mittels Krediten, wie es sich die meisten EU-Länder vorstellen.

Die G7 haben schon vor der Berliner Konferenz weitere Finanzhilfen für 2023 zugesagt. Heuer seien zudem zusätzlich zur militärischen und humanitären Hilfe bereits Budgetzuschüsse in Höhe von 20,7 Milliarden US-Dollar nach Kiew geflossen, zugesagt sind insgesamt 33,3 Milliarden Dollar. Mit Abstand größter Sponsor sind die USA, Deutschland ist mit einem Anteil von 1,4 Milliarden Euro EU-Primus.

Selenskyj mahnt zur Eile

Dass die Zeit drängt, mahnte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstag ein, der mittels Videoschaltung bei der Berliner Tagung zugegen war. Vorrangig seien nun Investitionen in Krankenhäuser, Schulen, Verkehrs- und andere lebenswichtige Infrastruktur. Durch Raketenangriffe sei mehr als ein Drittel der ukrainischen Energieinfrastruktur zerstört worden. Dieser Teil des Wiederaufbaus könne nicht auf die Zeit nach dem Krieg verschoben werden, dafür brauche die Ukraine jetzt Geld. Jeder Euro, jeder Dollar, jedes Pfund, jeder Yen sei eine Investition in die Ukraine, sagte Selenskyj, "aber auch in die demokratischen Werte weltweit".

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen warb um die Unterstützung "starker Partner", also der USA, Kanadas, Japans, Großbritanniens, Australiens und anderer Länder sowie Institutionen wie der Weltbank. Es seien Milliardensummen notwendig für den Wiederaufbau. Tausende Häuser seien zerstört worden, ebenso Schulen, Brücken, Straßen, Kraftwerke und Bahnhöfe. Für viele Ukrainerinnen und Ukrainer gehe es darum, im Winter ein warmes Zuhause zu haben. Mit Blick auf den Wiederaufbau von Infrastruktur sagte von der Leyen, dies müsse eingebettet werden in den Weg der Ukraine in die EU. Die Europäische Union werde das Land so lange unterstützen wie nötig. (flon, 25.10.2022)