Eritrea, das auf der Seite Addis Abebas besonders grausame Verbrechen begehen soll, ist zu den Gesprächen nicht eingeladen.

Foto: Amanuel Sileshi / AFP

Genauso hermetisch von der Weltöffentlichkeit abgeschottet wie seit zwei Jahren der Bürgerkrieg in der äthiopischen Tigray-Provinz tobt, haben jetzt auch die ersten offiziellen Verhandlungen zu seiner Beendigung in Südafrika begonnen. Die Regierung in Pretoria verhängte eine totale Nachrichtensperre über Zeitpunkt und Ort der Gespräche: Nur die Tatsache, dass Repräsentanten von zwei der drei Kriegsparteien tatsächlich ans Kap der Guten Hoffnung gekommen sind, gaben die äthiopische Regierung und ihr Widersacher, Tigrays Volksbefreiungsfront TPLF, über Twitter bekannt. Am Dienstag sollten die Verhandlungen begonnen haben: Wer sie leitet, wer ihnen im Einzelnen beiwohnt und wer sie beobachtet – alle diese Angaben sind vage.

Genauso vage wie die Berichte, die unterdessen aus dem Kriegsgebiet dringen. Die Tigray-Provinz ist seit zwei Jahren für ausländische Journalisten ein Sperrgebiet: Weil die äthiopische Regierung auch die Internet- und Telefonleitungen unterbrochen hat, sind Informationen aus der Region so rar wie dort Strom, Benzin und Nahrungsmittel. Derzeit sollen die Kämpfe in Tigray so blutig wie bislang noch nie toben: Die Situation drohe "völlig außer Kontrolle zu geraten", warnt UN-Generalsekretär António Guterres. Mit bis zu einer Million Soldaten stünden sich im Kriegsgebiet mehr Kämpfer als in der Ukraine gegenüber, will der norwegische Äthiopien-Kenner Kjetil Tronvoll vom New University College in Oslo wissen. "Das Gemetzel ist schrecklich", meldet Tronvoll über Twitter: "Bis zu 100.000 Menschen haben allein in den vergangenen Wochen ihr Leben verloren."

Munitionsmangel

Fest steht, dass sich die äthiopischen und eritreischen Streitkräfte in der Offensive befinden: Selbst die TPLF räumt ein, dass sich die Invasionstruppen auf dem Weg zur Provinzhauptstadt Mekelle befinden. Die ersten größeren Städte sind wie Shire und Axum bereits eingenommen: Als Nächstes kommen wohl Adigrat und Abiy Addi an die Reihe, danach wird dem Fall der Provinzhauptstadt Mekelle kaum noch etwas im Wege stehen. Den tigrischen Kämpfern drohe die Munition auszugehen, sagen Militärexperten: Die Taktik der Eindringlinge sei aufgegangen, die Verteidiger der Provinz mit der schieren Anzahl der in Wellen auf die Schlachtfelder geschickten Soldaten zu überwältigen. Genauso hatten die Äthiopier vor mehr als 80 Jahren auch die italienische Kolonialmacht bezwungen. Schon vor Wochen ordneten die drei Kriegsparteien – Äthiopier, Eritreer und Tigrayer – eine Generalmobilmachung an: Auch ohne die rund sechs Millionen Tigrayer verfügt Äthiopien über 110 Millionen Einwohner, mehr als die isolierte TPLF-Armee über Kugeln verfügt.

Seit mehr als einem Jahr ist die Provinz von jedem Nachschub abgeschnitten: umzingelt von äthiopischen und eritreischen Soldaten sowie von Milizionären des Volks der Amhara und der Afar. Seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe Ende August gelangen nicht einmal mehr Hilfskonvois des Welternährungsprogramms (WFP) in die Provinz, in der nach UN-Angaben mehr als 90 Prozent der Bevölkerung auf Nahrungsmittel aus dem Ausland angewiesen sind. Mitarbeitern internationaler Hilfswerke zufolge starben bereits Tausende von Tigrayern, vor allem Kinder, den Hungerstod: Nach einer Erhebung von Forschern der Universität im belgischen Ghent sind dem Konflikt schon bis zu 600.000 Zivilisten zum Opfer gefallen. Der derzeit "grausamste Krieg der Welt", sagt der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Tödliche Luftangriffe

Immer mehr kommen auch bei den Luftangriffen ums Leben, mit denen die äthiopischen Streitkräfte ihren Vormarsch begleiten. Befürchtet werden außerdem wieder Kriegsverbrechen, die sich vor allem eritreische Soldaten schon während ihrer ersten Invasion Tigrays vor zwei Jahren zuschulden kommen ließen: Sie massakrierten Zivilisten, vergewaltigten Frauen und plünderten Fabriken, Städte und Dörfer aus. Schwere Menschenrechtsverletzungen wurden auch den äthiopischen und tigrischen Soldaten vorgeworfen: Niemand soll jedoch rücksichtsloser als die Eritreer vorgegangen sein, die ihre Nachbarn seit dem Grenzkrieg vor zwei Jahrzehnten als Erzfeinde betrachten. Ihr Befehlshaber Isaias Afwerki muss sich um seinen Ruf keine Sorgen machen: Eritreas Präsident ist schon seit Jahrzehnten als blutrünstiger Diktator berüchtigt, vor dessen Herrschaft die Hälfte der Bevölkerung ins Ausland geflohen ist.

Friedensnobelpreisträger mit mörderischem Gehilfen

Eritreas Regierung wurde von der Afrikanischen Union (AU), der Veranstalterin der Verhandlungen in Südafrika, nicht einmal eingeladen: Ihre Beteiligung an dem Waffengang gilt als völkerrechtswidrig, obwohl sie vom äthiopischen Regierungschef Abiy Ahmed um "Hilfe" gerufen wurde. Ob Friedensnobelpreisträger Abiy den mörderischen Geist, den er gerufen hat, wieder loswerden wird, ist einer der Schatten, die schon über dem Auftakt der Gespräche liegen. Selbst wenn es zu einer Einigung käme, wird sich der verbitterte Menschen- und Demokratiefeind davon vermutlich nicht beeindrucken lassen.

Dabei scheinen die Chancen auf eine Verständigung gar nicht so schlecht zu stehen. Angesichts ihrer Missgeschicke auf dem Schlachtfeld bleibt der TPLF kaum etwas anderes übrig, als auf eine Einigung am Verhandlungstisch zu drängen: Will sie nicht erneut in Tigrays Bergwelt abgedrängt werden, von wo aus sie einen endlosen Guerillakrieg führen könnte. Umgekehrt kann der äthiopischen Regierung kaum daran gelegen sein, schließlich über ein Leichenfeld zu herrschen – und über den Rest einer Bevölkerung, der die Erinnerung an den "grausamsten Krieg der Welt" noch für Generationen im Bewusstsein schwärt. Zumindest diktiert das die Vernunft so. Allerdings hatte der äthiopische Bürgerkrieg mit Vernunft noch nie etwas zu tun. (Johannes Dieterich, 25.10.2022)