Traditionelle Rollenbilder sitzen tief: Buben lernen tendenziell schlechter über ihre Befindlichkeiten zu sprechen als Mädchen.

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Weinen? Darf man nicht. Hilfe? Braucht man nicht. Gefühle? Kennt man nicht. Männer sollen Leistung erbringen und funktionieren – im Job, in der Beziehung, im Bett. So will es das traditionelle Männlichkeitsbild, das bei vielen immer noch tief verankert ist. Schließlich ziehen sich patriarchale Strukturen durch die gesamte Gesellschaft, alle wachsen von Beginn an in diesem System auf: "Wegen dieser Sozialisierung und wegen dieser männlichen Rollenbilder leiden Männer bei psychischen Problemen oft leise", erklärt Bernhard Hungsberger, Psychotherapeut und Vorstandsmitglied des Tiroler Landesverbandes für Psychotherapie. Er ist auf Männergesundheit spezialisiert und weiß: Nach Hilfe zu fragen fällt vielen Männern schwer. Und zwar nicht erst, wenn es um seelische Probleme geht. Das beginnt schon bei banalen Situationen, wie Studien zeigen. Wenn Männer sich mit dem Auto verfahren, irren sie im Schnitt dreißig Minuten umher, bevor sie nach dem Weg fragen. Bei Frauen sind es nur wenige Minuten. Hilfe anzunehmen gilt als schwach und unmännlich.

Dabei haben viele Männer Hilfe nötiger, als sie selbst denken. "Vier von fünf Männern geben in Umfragen an, dass es ihnen gutgeht", berichtet der Experte. Die Zahlen, die aus der Forschung bekannt sind, zeichnen aber ein anderes Bild: Mehr als drei Viertel der Suizidtoten sind Männer. Sie sind deutlich häufiger suchtkrank als Frauen. Gleichzeitig wird ambulante Psychotherapie zu zwei Dritteln von Frauen in Anspruch genommen. "Männer gehen weniger, seltener und vor allem viel später in Therapie", sagt Hungsberger. Wie kann sich das ändern?

Männern fehlen oft die Worte

Mentale Gesundheit ist nach wie vor ein Tabuthema, vor allem bei Männern. Aber das Problem beginnt viel früher. "Männern fehlt eine Sprache für seelische Befindlichkeit", sagt Hungsberger. Auf die Frage, wie es einem geht, kommt von ihnen oft "gut". Nicht weil es tatsächlich so ist, sondern weil viele keine alternativen Antworten auf die Frage kennen. Hungsberger merkt das Tag für Tag in seiner Praxis. Ihm fällt auf, dass es für Klienten schwieriger ist, über Gefühle zu reden, als für Klientinnen: "Das ist aber kein ‚Ich trau mich nicht‘ von den Männern, sondern ein ‚Ich kann nicht‘."

Umso wichtiger sei ein Diskurs rund um das Thema mentale Gesundheit bei Männern – und der wird immer lauter. Das liegt auch daran, dass immer häufiger Prominente den Weg dafür ebnen und öffentlich über ihre Befindlichkeit sprechen. Ö3-Moderator Robert Kratky thematisierte vor kurzem auf Instagram einen "totalen Zusammenbruch" vor zweieinhalb Jahren. Kabarettist Thomas Stipsits erzählte in der Radiosendung "Frühstück bei mir", dass Burnout und Panikattacken der Grund für seine Bühnenauszeit waren. Und das Duo Pizzera & Jaus, bestehend aus Paul Pizzera und Otto Jaus, veröffentlichte im Frühjahr den Song "Klana Indiana". Der Text widerspricht dem bekannten Sprichwort, nachdem Männer keinen Schmerz kennen und nicht weinen dürfen, und bricht mit Stigmata rund um Psychotherapie. "Es ist okay, Hilfe zu suchen", betont Jaus.

Solche Botschaften von Männern, die in der Öffentlichkeit stehen und mit denen sich viele identifizieren können, sind enorm wichtig, ist Hungsberger überzeugt: "Das ist ein viel größerer Beitrag zur Entstigmatisierung, als ihn Fachleute je bewirken können." Pizzera und Jaus machen auch kein Geheimnis daraus, dass sie selbst bereits Psychotherapie in Anspruch genommen haben – und sie kritisieren strukturelle Probleme: Psychotherapie ist teuer, die Kassenplätze sind begrenzt und die Wartezeiten oft lange. Aber bei beiden war "irgendwann der Punkt erreicht, an dem man nur noch schläft, um nicht wach zu sein", erzählen sie. Am Anfang war der Weg zur Therapie von Scham begleitet, sagt Pizzera. Er fragte sich: "Sollte ich das nicht selbst lösen können? Mache ich mich lächerlich, wenn ich darüber rede?" Am Ende habe ihm seine Mama einen Tipp für einen Therapeuten gegeben, seinem Kollegen Otto Jaus hat dessen Frau Vorschläge gemacht.

Die beiden sind ein Beispiel für ein Phänomen, das man in der Praxis gut kennt: sogenanntes Nudging, zu Deutsch Schubsen oder Anstoßen. Es bedeutet, dass vor allem Männer häufig jemanden brauchen, der sie anstupst, bevor sie eine Therapie in Erwägung ziehen. Dieser jemand sind oft Frauen – besorgte Freundinnen, Töchter oder Mütter. Mentale Gesundheit ist immer noch Frauenthema.

Mentalcoaching statt Fantasiereise

"Wäre eine Psychotherapeutin ein Problem-Crusher, würden vielleicht mehr Männer hingehen", sagt Pizzera schmunzelnd und meint damit eine erprobte Praxis in der Psychotherapie: Wenn man Therapie durch ein anderes Wording einen maskulineren Touch verpasst, fühlen sich mehr Männer davon angesprochen. Oft kann es etwa hilfreich sein, bei Männern erst einmal von Coaching zu sprechen statt von Therapie. Coaching klingt nach etwas, das auch Sportler oder Manager machen würden. "Ein anderes Framing macht Sinn", bestätigt auch Hungsberger. "Gesundheitscheck statt Vorsorgeuntersuchung, Mentaltraining statt Fantasiereise. Es klingt anders, ist aber letztlich dasselbe." Persönlich ist Hungsberger kein Fan solcher Maßnahmen, "aber es ist halt notwendig". Oder wie Jaus mit Augenzwinkern sagt: "Wir san so deppert, wir brauchen das."

Aber es wird besser, ist Hungsberger zuversichtlich. Heranwachsende Generationen brechen mit toxischen Männlichkeitsbildern: "Dass Männer den Kinderwagen schieben, ist heute nicht mehr außergewöhnlich. Bei meinem Vater wäre das noch ein Tabubruch und ein absolutes No-Go gewesen", sagt der Therapeut. Dasselbe passiere gerade bei der Bewusstseinsbildung rund um mentale Gesundheit. Man dürfe jetzt bloß nicht müde werden, immer und immer wieder über das Thema zu sprechen und es zu entstigmatisieren – im Privaten genauso wie auf der öffentlichen Bühne, denn: "Steter Tropfen höhlt den Stein." (Magdalena Pötsch, 27.10.2022)