Nein, ein Service zahlt sich nicht aus." Christian Dorfinger tätschelte den rissigen Sattel des alten Damenrades und schaut drein wie ein Heimatfilm-Landadeliger im Gnadenstall: Einst war das Ross hier edel und schön, aber das ist lange her. Dorfinger ist kein Adeliger – er ist Fahrradhändler. Seinen Floridsdorfer Familienbetrieb gibt es seit 1949. Hier lebt man Radfahren. Unprätentiös und alltagstauglich. Wenn Christian Dorfinger ein Rad für nichtservicewürdig befindet, heißt das nämlich nicht "Schrottplatz". "Die Bremsen, Lichter und Reflektoren passen: Geben S’ Öl auf die Kette – dann haben S’ das perfekte Bahnhofsrad." Nein, Dorfinger sagt das nicht abschätzig.

Über Bahnhofsräder spricht kaum jemand, obwohl sie fast jeder schon gesehen hat. Schade, denn die oft ziemlich heruntergekommen Fahrräder sind ideal für die letzte Meile – weil sie nicht gestohlen werden.
Foto: Guido Gluschitsch

Sogenannte Bahnhofsräder sind eine spannende Gattung in der glitzernden Fahrradwelt. Auch weil niemand ihre Zahl kennt: Wie viele der sieben Millionen Drahtesel im Acht-Millionen-Einwohner-Staat dieser Kategorie angehören, ist unklar. Im regulären Handel gibt es sie nicht: Keines der 490.000 in Österreich 2021 verkauften Fahrräder hieß "Bahnhofsrad" – auf Wiederverkaufsplattformen ist der Begriff aber omnipräsent.

Rostige Ketten

Obwohl nie je erläutert, erklärt oder genau definiert, versteht man schnell, was gemeint ist: Bahnhofsräder sind alt und verwahrlost. Mit schiefen Lenkern, rostigen Ketten und zerschlissenen Sätteln verrammeln sie Abstellbügel und andere hochfrequentierte Dauerradabstellorte an Bahnhöfen und Umsteigeknoten, Universitäten, bei Bibliotheken oder vor Fabriken.

Mit verbogenen Lichtern, halb abgerissenen Kotblechen, windschiefen Gepäckträgern samt schäbig improvisierten Körben, mit abgefahrenen Reifen stehen sie bei Wind und Wetter im Freien. Ästhetische Zumutungen, die nur, wenn sie im Rudel herumstehen, wahrgenommen werden. Auch, weil sie dort wertvolle rare Abstellstellen für "echte", also wertige, Fahrräder blockieren. Die ungenutzten Rostlauben parken alles zu. Sind hier wohl entsorgt: Denn Rad fahren will und kann mit sowas niemand!

Kurzstreckenmobil

Das ist falsch: Das Bahnhofsrad gehört hierher. Genau hierher. Es wird hierher- und wieder wegbewegt. Oft regelmäßig, meist nur ein paar Minuten lang. Es taugt auch nur für Kurzstrecken.

Doch auf die kommt es an: Erst das Bahnhofsrad macht die Verkehrs- und Mobilitätswende möglich. Es ist der Mobilitätsgarant der "letzten Meile". Weil diese "letzte Meilen", die Wege zum Supermarkt, zum Greißler, zum Bahnhof, so unvermeidlich wie kurz sind. Zu Fuß ungemütlich lang, mit dem Auto schlicht dumm: Die Parkplatzsuche dauert länger als die Fahrt – aber Bügel oder Geländer für das Rad finden sich.

Bahnhofsräder nehmen den guten Rädern den Bügel weg. Stimmt. Stimmt aber auch nicht.
Foto: Guido Gluschitsch

Apropos Bügel: Bahnhofsräder blockieren Bügel für "gute" Räder nicht. Weil niemand, der halbwegs bei Trost ist, mit dem "guten Rad" zum Bahnhof radelt. Denn das Bahnhofsrad ist noch da. Auch wenn man nach mehreren Arbeitstagen wieder aus der S- oder U-Bahn steigt.

Für Diebe uninteressant

Eben weil es niemand will. Nicht einmal Fahrraddiebe: Den schlecht ausgerüsteten Alltagsdieb mit momentanem Mobilitätsbedarf vergrault schon ein mittelgutes Schloss. Und für den gewerbsmäßigen Profi, der mit Lieferwagen und Akkuflex anrückt, der Räder ganz oder filetiert weiterverkauft, ist das Bahnhofsrad, wonach es aussieht: unverkäuflicher und damit wertloser Schrott.

Natürlich: Unter den 17.595 Fahrrädern, die in Österreich im Vorjahr gestohlen wurden, sind auch Bahnhofsräder. Wie viele, weiß – auch mangels Definition – niemand. Gestohlen wird – insgesamt – aber weniger, sagt Christian Gratzer vom VCÖ: 2020 gingen knapp 18.000 verloren – aber 2015 waren es 28.000. Gleich bleibe aber die Quote der wiedergefundenen Räder (klägliche neun Prozent) und jene Faktoren, die das Diebstahlrisiko vergrößern.

Schon ein einfaches Schloss kann dieses rosarote Fahrrad für Gelegenheitsdiebe sehr uninteressant machen.
Foto: Guido Gluschitsch

Über Schlösser wird da oft und viel gesprochen. Radlobby-Österreich-Kopf Roland Romano führt die "Expositionsdauer und -häufigkeit" ins Treffen, betont aber, dass noch der schlichteste Dieb genau überlegt, in welcher Relation der erwartbare Wiederverkaufswert eines Rades zum eigenen Risiko steht.

Mobile Antithese

All das, betont Rainer Neuroth, mache das Bahnhofsrad zur "unschlagbaren Antithese zu allem, was die Industrie anpreist: Es ist das, womit die Leute im Alltag unterwegs sind." Neuroth ist Obmann der "Lenkerbande". Der Verein betreibt Rad-Selbsthilfe-Werkstätten und beschreibt sich gern als "Kompetenzzentrum für Bahnhofsräder". Der Lenkerbandenchef spricht lieber von "bescheidenen Fahrrädern" oder "Fahrrädern, die nicht ernst genommen werden" – und die oft ähnliche Biografien hätten: Im "Freizeitradboom" in den 1980er- oder 1990er-Jahren angeschafft, fristeten sie bald ein langes, freudloses Dasein in Kellern, Gartenhütten und Höfen: "Ihr Wert erschließt sich erst, wenn man rational über die sinnvollste Einsatzart eines Fahrrades nachdenkt." Und es richtig ausstattet.

Doch damit meint Neuroth weder Highend-Scheibenbremsen noch Funkschaltung, sondern eher das Gegenteil.

Allein schon der Sattel macht dieses Rad denkbar unattraktiv.
Foto: Guido Gluschitsch

In der Natur heißt das Vortäuschen, jemand anderer zu sein, "Mimikry" oder "Signalfälschung". Mimikry gibt es auch in der Fahrradwelt: Mit Feile, Heißklebepistole und aufgekleckstem Lack wird dann ein 2000-Euro-Bock in einen Zustand versetzt, bei dem die größte "Entwendungsgefahr" von der Straßenreinigung ausgeht. "Der Trick dabei ist, nicht an der Funktionalität oder Verkehrssicherheit zu kratzen", sagt Andreas Boruta.

Im deutschen Sprachraum gilt der Herausgeber des Onlineradmagazins fahrradzukunft.de als "Großmeister" des Radverschandelns. Mit Feile, Lumpen und Schmirgelpapier foppt der 55-jährige Berliner die Fahrraddiebe seit 30 Jahren: "Ja, es tut körperlich weh, einen 200-Euro-Scheinwerfer zu zerkratzen", sagt er, aber der "Erfolg" spreche für sich: "Ich kenne außer mir niemandem, dem noch kein Rad gestohlen wurde."

Gedankenexperiment Auto

Kurt Stefan verschlägt es da zunächst die Sprache. In seiner Radboutique Veletage lautet das Motto "fahret schön und schnell". Die Preise sind entsprechend hoch. Dennoch nickt Stefan: "Ich verstehe den Zugang. Aber dass wir solche Räder und Maßnahmen brauchen, ist eine gesellschaftspolitische Bankrotterklärung: Ginge es um Autos, würde sofort massiv in Infrastruktur investiert" – nicht nur in die mobile, herzeigbare der Radwege, sondern auch in die ruhende.

Be- oder überwachte, diebstahl- und vandalismussichere Radabstellanlagen, betonen Verkehrsdenker seit Jahren, hätten einen enormen Lenkungseffekt. Dass Niederösterreichs Neos-Chefin Indra Collini in Wahlkampfvideos gern vor Bahnhöfen brauchbare Abstellstrukturen fordert, kommt nicht von ungefähr. An manchen Bahnhöfen – etwa im Burgenland – keimen erste Pflänzchen: "Bikeboxen" wie die in Neufeld waren sofort voll.

Am Bahnhof in Neufeld gibt es Fahrradboxen. Wenige aber doch.
Foto: Guido Gluschitsch

Das Rad erfindet man nicht neu: In Rad-Vorzeigeländern wie den Niederlanden wird seit Jahrzehnten auch ruhender Radverkehr mitgedacht. Nicht klein-klein – sondern groß: Trockene und betreute Radgaragen sind an Umsteigeknoten längst selbstverständlich – das spiegelt sich auch in der "Qualität" der Bahnhofsräder wider.

Dreamteam

Das verkehrspolitische Planungskalkül folgt lange bekannten Mobilitätsmustern, betont Romano: Ist ein Weg kürzer als fünf Minuten, bleibt das Auto stehen. Mit dem Rad ist man auch gemütlich fast dreimal so schnell wie zu Fuß: "Der dreifache Radius verzehnfacht das Einzugsgebiet, in dem kein Auto benötigt wird." Romanos Schlussfolgerung: "Räder und Öffis sind das Dreamteam der Verkehrswende."

Bei Christian Dorfinger in Floridsdorf steht der nächste Kunde mit einem klapprigen Kellerrad. Dorfinger rät – wieder – vom großen Service ab: "Kaufen Sie ein gutes Schloss. Mehr brauchen Sie nicht."

Über Bahnhofsräder spricht kaum jemand, obwohl sie fast jeder schon gesehen hat. Schade, denn die oft ziemlich heruntergekommen Fahrräder sind ideal für die letzte Meile – weil sie nicht gestohlen werden. (Tom Rottenberg, 1.11.2022)