Ein Gutteil der internationalen Diplomatie spielt sich neben den traditionellen Kanälen mittlerweile in den sozialen Medien ab. Im russischen Angriffskrieg in der Ukraine hat sich das englischsprachige Twitter-Profil des russischen Außenministeriums schon mehrfach mit fragwürdigen bis erwiesen falschen Behauptungen an die Öffentlichkeit gewandt. Diesmal ging es um den Vorwurf, die Ukraine bereite den Einsatz einer sogenannten schmutzigen Bombe, also eines mit radioaktivem Material verseuchten Sprengkopfs, vor. Als "Beweis" fügte man Bilder möglicher Quellen der radioaktiven Substanz an.

Tatsächlich stammen diese Bilder jedoch aus dem Jahr 2010 und kommen von der slowenischen Behörde für radioaktive Abfälle, wie die slowenische Regierung ihrerseits ebenfalls auf Twitter feststellte und die vermeintlichen russischen Beweise damit als falsch entlarvte. Jeglicher Abfall werde gut gesichert aufbewahrt und nicht für schmutzige Bomben verwendet, so die slowenische Regierung.

Nicht zuletzt weil die Ukraine mit dem Einsatz einer solchen Bombe auch ihr eigenes Staatsgebiet verseuchen, die eigene Bevölkerung gefährden und je nach Größe und Sprengkraft ganze Landstriche mittelfristig unbewohnbar machen würde, haben sowohl ukrainische Offizielle als auch westliche Geheimdienste die russischen Vorwürfe stets als absurd bezeichnet. Der Einsatz auf ukrainischem Territorium soll laut russischer Ansicht dazu gedacht sein, Moskau zu diskreditieren. Auch dafür gibt es jedoch keinerlei Belege.

Dass die Ukraine eine solche Bombe zündet hält auch Oberst Berthold Sandtner, Forscher am Institut für Höhere Militärische Führung an der Landesverteidigungsakademie in Wien für unlogisch und unwahrscheinlich. Seiner Meinung nach wollen die Russen mit dieser Ankündigung vielmehr "Angst und Schrecken verbreiten". Dass sie diese Waffe ins Spiel bringen, habe den Zweck, "das psychologische Narrativ zu bedienen" und nicht Erfolge am Gefechtsfeld zu erzielen. Die Wirkung einer solchen Bombe hängt von ihrer Größe ab, ist aber jedenfalls kleinräumig bis regional beschränkt. Einen deutlich größeren Schaden würde natürlich die Freisetzung von Radionukliden (nach einem gezielten Angriff) aus einem Kernkraftwerk bedeuten. So etwas falle allerdings nicht unter den Begriff "dirty bomb", so Sandtner.

Das hielt die russische Seite bisher nicht davon ab, die Vorwürfe auch auf höchster diplomatischer Ebene im UN-Sicherheitsrat oder bei strategischen Partnern wie China und Indien zu platzieren.

Indien gibt sich diplomatisch

Im Gegensatz zu den Nato-Staaten äußerte sich der indische Verteidigungsminister Rajnath Singh nach einem Gespräch mit seinem russischen Amtskollegen dann auch scheinbar ausgewogen – was der russischen Seite durchaus gefallen dürfte. Er habe an den Dialog und die Diplomatie appelliert und wolle nochmals daran erinnern, dass "keine Seite die nukleare Option ziehen" solle, so Singh.

Dass Russland am Mittwoch wieder einmal seine nuklearen Muskeln spielen ließ, sorgt vielerorts für Verunsicherung. Auch dass Verteidigungsminister Sergej Schoigu eine simulierte "Reaktion auf einen massiven atomaren Schlag" als Ziel der jährlich stattfindenden Übungen der Nuklearstreitkräfte ausmachte, trug nicht gerade dazu bei, die Wogen zu glätten. Tatsächlich hat aber Russland die USA, wie in bilateralen Rüstungsverträgen vereinbart, vorab über die Abhaltung der Übungen informiert. Auch die Nato hält aktuell wie angekündigt und geplant solche Übungen ab.

Tests von Interkoninentalraketen

Konkret testeten die Russen am Mittwoch unter anderem eine Interkontinentalrakete des Typs RS-24 Jars (siehe Bild) vom Kosmodrom Plessezk im Nordwesten Russlands sowie eine U-Boot-gestützte ballistische Rakete des Typs R-29RMU Sinewa, die man aus der Barentssee in Richtung der Halbinsel Kamtschatka im Nordosten des Landes feuerte.

Der Start der Jars-Rakete.
Foto: EPA/Russian Defence Ministry Press Handout

Atombomben selbst wurden freilich nicht getestet, schon gar nicht mit Raketen. Russland hält sich wie die USA und Großbritannien an den Vertrag, der atmosphärische Atomwaffentests seit 1963 untersagt. China und Frankreich haben den Vertrag nicht unterzeichnet und auch noch in den 1970er- und 1980er-Jahren an der Oberfläche getestet. Alle anderen Atomtests der nichtoffiziellen Atomstaaten, wie sie auch bei Nordkorea dieser Tage wieder vermutet werden, fanden unterirdisch statt.

Mit der Angst vor einem Einsatz taktischer Atomwaffen durch Russland aufgrund der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive haben die Tests vom Mittwoch jedoch wenig zu tun. Interkontinentalraketen, wie sie Russland getestet hat, gelten eher der Abschreckung und sind primär für das strategische Nuklearwaffenarsenal gedacht – also jene Waffen, die bei einem globalen Atomkrieg zwischen den Supermächten zum Einsatz kämen. Wie der Name verrät, sind auch die Reichweiten der Interkontinentalraketen zur Überquerung ganzer Kontinente gedacht und wurden im Kalten Krieg primär als strategische Abschreckung gegenüber der USA entwickelt. (faso, 27.10.2022)