
Etwa 15 Kilometer nördlich von Linz, unweit der Burg Wildberg, befindet sich die beschauliche Ortschaft Hellmonsödt. Die katholische Pfarrkirche auf dem Marktplatz mag so normal erscheinen wie das Amen, das die Gemeinde bei der Sonntagsmesse spricht. Doch sie birgt ein Geheimnis: Dort, wo seit dem Kirchenbau im Auftrag von Gundaker Starhemberg etliche Angehörige des gleichnamigen Adelsgeschlechts bestattet wurden, gibt es einen Sarg, der bisher nie zugeordnet werden konnte.
Unter der Starhemberg’schen Gruftkapelle liegt eine weitere Gruft verborgen. In verzierten Metallsärgen sind vor allem die erstgeborenen Männer der aristokratischen Familie bestattet, mitunter auch ihre Ehefrauen. Doch ein kleiner Holzsarg sticht hervor, nicht nur aufgrund seiner Schlichtheit: Er ist der einzige, bei dem die darin bestattete Person nicht namentlich gekennzeichnet ist.
Hohe Säuglingssterblichkeit
Dieses Rätsels nahm sich nun ein Forschungsteam um Andreas Nerlich von der Pathologie der Klinik München-Bogenhausen an – nach der Genehmigung durch die Diözese Linz, die örtlichen Kirchenbehörden und ein Mitglied des noch bestehenden Familienzweigs. Eine zusätzliche Besonderheit machte den Fund nicht nur genealogisch, sondern auch in einem weiteren Sinne wissenschaftlich wertvoll: Der Sarg enthält den Leichnam eines Kleinkinds, das mumifiziert ist.
Die Lebensbedingungen von Säuglingen aus früheren Epochen können nur schwerlich untersucht werden. Historikerinnen und Historiker müssen sich häufig auf Textquellen verlassen. Bekannt ist, dass die Kindersterblichkeit bis vor etwa einem Jahrhundert weltweit sehr hoch war: Nur etwa die Hälfte der Bevölkerung erreichte das späte Teenager- oder Erwachsenenalter, ungefähr ein Viertel verstarb noch vor dem ersten Geburtstag.

Doch nur selten können anthropologische Methoden zum Einsatz kommen: Gerade bei Kleinkindern fehle es an Studienmaterial, weil die kleinen Knochen schnell verwesen und nur selten Einbalsamierungen und Mumifizierungen durchgeführt wurden, schreibt das Forschungsteam im Fachmagazin "Frontiers in Medicine". Der natürlicherweise durch Luftabschluss mumifizierte Körper in der Starhemberg-Gruft stellt also eine Ausnahme dar, die aussagekräftige Einblicke in das kurze Leben und den Gesundheitszustand eines Kleinkinds im 17. Jahrhundert liefert.
Indizien im Stammbaum
Dass das Kind im 16. oder 17. Jahrhundert lebte, konnte das Team mithilfe einer Radiokarbon-Datierung bestimmen. Die Analysen zeigten auch, dass das Kleinkind ein Bursche war und im Alter von zehn bis 18 Monaten verstarb. In Kombination mit dem dokumentierten Stammbaum der Familie Starhemberg und der Tatsache, dass nur erstgeborene männliche Nachkommen in der Gruft bestattet wurden, kamen bald nur noch drei Kandidaten infrage: der 1566 geborene Gregor, der 1589 zur Welt gekommene Gundaker sowie Reichard Wilhelm (1625–1626).
Relativ eindeutig wurde die Angelegenheit schließlich, weil man die Gruft um 1600 renovierte und das Kind höchstwahrscheinlich erst danach bestattet wurde. Es dürfte sich also um den gleichnamigen Enkel von Reichard (oder Richard) von Starhemberg handeln, wobei Letzterer wiederum 1613 in derselben Gruft seine letzte Ruhe fand. An seiner Seite stand der hölzerne Kindersarg.

Der verstorbene Säugling war also der erstgeborene Sohn von Erasmus dem Jüngeren und dessen Frau Judith Sabina Freiin von Jörger. Den Eltern wurde in Sachen Nachkommen kein langfristiges Glück zuteil, die Mutter starb bei der fünften Geburt im Kindbett. Vater Erasmus engagierte sich darüber hinaus für die "Erhaltung und Wiederherstellung der Reinheit der deutschen Sprache" in der "Fruchtbringenden Gesellschaft", deren Bemühungen allerdings diesem Lexikoneintrag zufolge von wenig Erfolg gekrönt waren.
Seide und "Leichenwachs"
Der junge Reichard Wilhelm wurde in einem kostbaren Seidenmäntelchen mit Kapuze bestattet. Pigmente in Haarfollikeln weisen auf dunkle Haare hin. Die Analysen zeigten zudem, dass seine Schädelknochen stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, allerdings erst nach seinem Versterben. Die Forschungsgruppe vermutet, dass der Sarg zu kurz und zu flach für den Leichnam war.
Das Team ließ den Körper auch per Computertomografie durchleuchten, um etwa Hinweise auf die Todesursache zu erhalten. Die virtuelle Autopsie ergab Anhaltspunkte für eine Lungenentzündung, die wahrscheinlich zum Tod führte. Außerdem bemerkten die Fachleute, dass das Kind überdurchschnittlich dick war. Dafür sprachen das erhaltene Weichteilgewebe im Bauch- und Oberschenkelbereich und vergrößerte Fettzellen.
Teilweise konnte auch eine eher seltene Verwesungsart nachgewiesen werden, die als "Adipocire" oder Leichenlipid bezeichnet wird: In feuchter und sauerstoffarmer Umgebung kann es vorkommen, dass Fettgewebe in ein Gemisch aus Fettsäuren und Glyzerin umgewandelt wird und verhärtet. Auch dieses Phänomen kann zur Konservierung von Leichenbestandteilen beitragen. Erst 1658, also 32 Jahre nach dem Tod des Kindes, wurde Adipocire nach heutigem Wissensstand erstmals in der Literatur beschrieben.
Spuren am Skelett
Trotz der Körperfülle, die der Forschungsgruppe zufolge durch den aristokratischen Wohlstand unterstützt wurde, stellte sie fest, dass das Kind mangelhaft ernährt war. An den Knochen, insbesondere an den Rippen finden sich Merkmale der Rachitis. Dabei handelt es sich um eine Vitamin-D-Mangelerkrankung, die sich sehr deutlich an Skeletten zeigen kann – vor allem dann, wenn einer Person schon im Kindesalter das wichtige Vitamin fehlte.

Typisch dafür sind gebogene Langknochen, also Arm- und Beinknochen, was sich in sogenannten "O-Beinen" niederschlagen kann. Dies ist bei Reichard Wilhelm nicht erkennbar, was jedoch daran liegen dürfte, dass das Kind noch kaum gekrabbelt oder aufrecht gegangen war und die Rachitis-geschwächten Knochen noch kaum Druck ausgesetzt waren. Andere Krankheiten, die sich am Skelett zeigen können – etwa Syphilis oder spezifische Knochenentzündungen – ließen sich ausschließen. Rachitis trat häufig bei Kindern auf, die während der Industrialisierung in Bergwerken arbeiteten – was beim adeligen Säugling freilich nicht der Fall war, zugrunde lag beiden Gruppen aber eines: der fehlende Zugang zu Sonnenlicht.
Vollständiger UV-Licht-Mangel
Wie Nerlich und sein Team schreiben, dürfte die noble Blässe, die den Adel von der gebräunten, unter freiem Himmel arbeitenden Bevölkerung unterschied, auch das Starhemberg'sche Kleinkind betroffen haben. Bei allzu rigorosem Vermeiden von UV-Strahlung drohte allerdings die Mangelerkrankung, die selbst durch ausgewogene Ernährung nur schlecht kompensiert werden kann. Eine weitere medizingeschichtliche Randnotiz: Auch die Rachitis wurde Mitte des 17. Jahrhunderts erstmals von Fachleuten beschrieben, 19 Jahre nach Reichard Wilhelms Tod.
Wie erst in den vergangenen zehn Jahren durch Studien deutlich wurde, könnte es auch einen Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und der Todesursache des Kindes geben: "Kinder mit Rachitis sind viel anfälliger für Lungenentzündungen", schreibt die Forschungsgruppe. Das fehlende Sonnenlicht dürfte also wesentlich zur schwächeren Konstitution beigetragen haben.
"Die Kombination von Fettleibigkeit und schwerem Vitaminmangel lässt sich nur durch einen allgemein 'guten' Ernährungszustand und einen fast vollständigen Mangel an Sonnenlicht erklären", sagt Erstautor Nerlich. Durch die Analyse der Kleinkindmumie ließen sich spezifische gesundheitliche Probleme, an denen einst gewiss auch andere hocharistokratische Kleinkinder trotz ihrer privilegierten Möglichkeiten litten, genauer beleuchten. (Julia Sica, 28.10.2022)