Der SL ist garantiert das schärfste Messer, das wir zum Abschiednehmen von der Verbrennungsmotorenbau-Hochkultur in den Seewinkel mitbrachten. Ungestümster Vorwärtsdrang, enorme Präzision aller Abläufe, da wuchs zusammen, was zusammengehört: SL und AMG. Aus der geringsten Kubatur aller vier zum Vergleich angetretenen V8 holen die Affalterbacher die meiste Leistung und beste Performance. Am ehesten vergleichbar ist die Philosophie bei Bentley, deren V8 hat als Kubatur 3996 cm³, und sie kitzeln daraus bei Bedarf und auf Nachfrage am Gaspedal 550 PS heraus, mit 4,1 Sekunden von null auf 100 – damit das Autoquartett-Klischee bedient ist – geht er als Zweitschnellster durchs Ziel.

Nach zwei Generationen mit versenkbarem Blechdach kehrt der SL wieder zum klassischen Textilverdeck zurück. Funktioniert elektrisch. Anders der V8-Biturbo. Was für ein prachtvoller Verbrenner.



Foto: Andreas Riedmann

Da machst du im Mercedes-AMG SL 63 4matic+, so die vollständige Bezeichnung, schon Espressopause: 3,6 Sekunden dauert dessen Sprint, und das verdankt sich einmal der überlegenen Biturbo-Leistung – die beiden Lader sind im Zylinder-V untergebracht, 585 PS stehen hier an –, andererseits der vergleichsweisen Schlankheit des Konzepts: 1970 kg Leergewicht beim SL, 2335 sind es beim allerdings deutlich opulenter ausstaffierten Bentley, jenseits der 2,1 Tonnen beim rassigen Lexus LC, lediglich der Mustang ist mit 1839 Kilos deutlich schlanker, ausgerechnet der Ami.

Das Thema Opulenz wurde schon angerissen – das ist die Domäne von Bentley und noch mehr von Rolls-Royce, jetzt immer mit Blickwinkel auf die fünf hier besprochenen Autos. Heißt aber nicht, dass man im SL armeschluckermäßig logieren würde. Das Schwelgpotenzial ist nur dezenter umgesetzt. Treffsicher die Auswahl und Kombination der Materialien, und die stilistische Umsetzung löst jenen leisen Traditionsreflex aus, der bei der Geschichte dieser Baureihe einfach bedient werden muss. Dezente Verbeugung.

Eine Rückkehr zu den Wurzeln signalisiert auch das Dach. Nach zwei Generationen ist wieder Textil angesagt, 21 kg leichter als das versenkbare blecherne des Vorgängers, und zum Öffnen, das in 15 Sekunden erfolgt, kannst du schon einmal losfahren mit bis zu 60 km/h. Unwürdig hingegen: wackeliges, schwer fixierbares Windschott.

Die charakteristisch lange Front wird so nur vom AMG GT übertroffen.
Foto: Andreas Riedmann

Der SL war der vorletzte Mercedes, der noch nicht die Handschrift des genialen Chefdesigners Gorden Wagener trug. Der letzte wäre der SLK/SLC, der wurde aber aus dem Programm genommen und kriegt bestimmt keinen Nachfolger (BMW hatte beim Z4 ja auch lange überlegt). Lust und Last: Der SL ist eine der schwierigsten Aufgaben für einen Designer. Porsche hat es mit dem 911 konsequenter betrieben als Mercedes, immerhin wurden da die Grundparameter immer wieder weitergereicht: lange Motorhaube, kurze Überhänge, flache Frontscheibe, knackige Proportionen.

Es geht wieder rund • Wageners Interpretation lehnt sich nun konkreter an den Erstling von 1954 an, sei es bei der großen Rundform, sei es bei Details wie den beiden Powerdomes auf der Motorhaube. Flügeltüren müsste man sich dazudenken, den SL gibt’s ausschließlich als Roadster. Und erinnern Sie sich an den SL-Urahn, den Rennsportler 300 SL von 1952? Dessen lotrechte Lamellen sind mit ein Markenzeichen der AMG-Fronten, so auch beim SL.

Bei den einzelnen Generationen hat jeder seine eigenen Präferenzen. Meine ist die Pagode, bis um die Nullerjahre haben sie dir die nachgeworfen, aber als ich selbst ernsthaft überlegte, zuzuschlagen, waren die Preise schon durch die Decke gegangen. Derzeit ist eher die Bobby-Ewing-Dallas-Version en vogue, Baureihe 107 (1971–89).

Damit zurück zum Seewinkel-SL: Tolles Auto. Grandios. Tradition und Hochtechnologie punktgenau ins Jetzt gebracht. Aber ganz ehrlich? Ich persönlich würde mir lieber ein 911er Cabrio einpacken lassen. Und was die Zukunft betrifft: Bei der langen Laufzeit der SL-Baureihen ist der Nächste sicher ein Elektrischer. V8, du gehst unter. Aber mit wehenden Fahnen. Mit Würde, Stil und Anstand. (Andreas Stockinger, 6.11.2022)

Was Mercedes wirklich niemand abstreiten kann, ihre Autos haben Stil. Eine der schönsten Silhouetten der hier vertretenen Gefährten.
Foto: Andreas Riedmann

Zweite Meinung

Insgesamt ein arges Auto, was Leistung und Preis anbelangt. Und dabei auch noch der Tradition verpflichtet. Der Mercedes SL schaut unverschämt gut aus. Der Wagen ist so präzise in allen Belangen, das ist fast schon unheimlich. Wie kein anderer aus der Runde (Ausnahme Lexus) ist der Mercedes auch in der Lage, die Leistungsdaten auf die Rennstrecke zu bringen. Aber klar, man kann auch den Ellbogen rauslehnen und lässig cruisen. (Michael Völker, 6.11.2022)

Preis: 252.695 € (Testwagen: 293.169 €) • V8-Zylinder, 3982 cm³, 430 kW (585 PS), 800 Nm • Beschleunigung: 3,6 sec 0–100 km/h, Höchstgeschwindigkeit: 315 km/h • Verbrauch: 12,9 l / 100 km, CO2: 293 g/km • L/B/H: 471/192/135 cm, Radstand: 270 cm, Leergewicht: 1970 kg


Foto: Andreas Riedmann