Einsatz in Wien-Ottakring: Sanitäter Mario Tauschek, 28, holt die Trage aus dem Rettungswagen.

Foto: Christian Fischer

Die Patientin wird mit dem Rollsitz aus dem Haus gebracht, dann helfen ihr die beiden Sanitäter auf die Liege, auf der sie die Dame sicherheitshalber angurten...

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... und sie dann zum Rettungswagen rollen.

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Im Fahrzeug erfahren sie über ein Display, in welchem Krankenhaus das nächste Bett frei ist und fahren los. Simon Exenberger, 31, sagt über die Arbeit: "Man muss sich schon bewusst machen, dass das, was wir erleben, nicht normal ist."

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Bisher ist der Dienst ruhig verlaufen – und jetzt das. Gerade lag der rotblonde Mann in ausgebeulter Jogginghose noch reglos auf der Trage, jetzt springt er auf und reißt die hintere Tür des Rettungswagens auf. "Ihr wisst ja nicht, was ihr tut!", schreit er. "Hey, warte. Ganz ruhig", versucht Notfallsanitäter Simon Exenberger den Patienten zu besänftigen. "Du hast eine Infusionsnadel im Arm", sagt er laut, aber freundlich. Doch der zerzauste Patient tobt. "Gib mir meinen Rucksack zurück" , brüllt er und rennt dann entlang der Straßenbahngleise zum Wiener Westbahnhof. In seinem Handrücken steckt noch ein Venflon. Exenberger seufzt, schnappt sich den Notfallrucksack und eilt ihm nach.

Es ist 15.30 Uhr. Seit achteinhalb Stunden versehen Simon Exenberger und Mario Tauschek ihren Rettungsdienst. Vier Stunden liegen noch vor ihnen.

Föderal organisiert

Oft war in den vergangenen Monaten die Rede davon, dass Rettungssanitäter immer wieder in Situationen geraten, denen sie nicht gewachsen sind. Einzelne Vorfälle mit Todesfolge sorgten im Sommer für Aufsehen, etwa in der Steiermark. In Regionen mit zu wenigen Notärzten, insbesondere in ländlichen Gebieten, müssen Sanitäter mitunter lange allein Verletzte und Kranke versorgen. Manchmal trifft es zwei Zivildiener mit kaum Erfahrung. Das Gesundheitsministerium will die Kompetenzen und Ausbildung der Sanitäterinnen und Sanitäter bis Ende 2023 prüfen. Dabei sind, dank Föderalismus, neun verschiedene Rettungssysteme zu durchleuchten, in denen die Aufgaben an diverse Rettungsorganisationen verteilt sind, für die wiederum ein Mix an Ehrenamtlichen, Zivildienern und unterschiedlich ausgebildeten Berufstätigen arbeitet.

Start um 7 Uhr Früh

Berufsrettung Wien, Station Mariahilf, sieben Uhr früh. Simon Exenberger (31) und Mario Tauschek (28) ziehen die dunkelblau-orangen Uniformen an, steigen in die Arbeitsschuhe und übernehmen Rettungswagen Nummer vier, Kürzel MHF-4, vom Nachtdienst. Die beiden Notfallsanitäter – gut 1,80 groß, schlank, kurze, dunkle Haare – sind seit dem Sommer ein Team. Sie machen das Fahrzeug einsatzbereit, füllen Verbandszeug und Sauerstoff nach.

Kurz vor neun läutet es in der Fahrerkabine. "Fünfter Bezirk, 71, weiblich, abnorme Atmung", informiert die Leitstelle. Mario Tauschek lenkt das Rettungsauto aus der Einfahrt, setzt die Sonnenbrille auf und gibt Gas.

Die Berufsrettung übernimmt in Wien die dringenden Einsätze. Krankentransporte wickeln in der Regel Rotes Kreuz, Samariterbund und Co ab. Wiens Rettungswesen sticht im Ländervergleich mit vielen hochqualifizierten Einsatzkräften hervor: Neun von zehn Sanitätern der Berufsrettung haben nach der Basisausbildung Notfallkurse absolviert und viele weitere Zusatzschulungen. In fast allen anderen Bundesländern sind die besser ausgebildeten Notfallsanitäter klar in der Minderheit.

Aufgeregt und kurzatmig

Nach wenigen Minuten Fahrt parkt der Wagen an einer Ecke eines Gemeindebaus. Die beiden Sanitäter stapfen in den zweiten Stock. Ein weißhaariger Herr im Schnürlsamt-Zweiteiler öffnet die Tür zu einer stickigen Zwei-Zimmer-Wohnung. Auf der Couch im Wohnzimmer wartet seine Frau im lila Frotteemantel, aufgeregt und kurzatmig.

Simon Exenberger fragt die Dame mit grauem Haar nach Lungenerkrankungen. Keine, aber dreimal bypassoperiert. Drei Wochen atme sie schon schlecht. Beim Hausarzt war sie nicht. "Ich hab gedacht, es wird besser", sagt sie ein paar Mal. Exenberger sieht nach, ob die Atemwege frei sind, checkt Atmung und Blutdruck, überprüft, ob die Frau orientiert wirkt, wie sie spricht, und sucht nach Verletzungen oder Ähnlichem.

"Geben wir ihr vier Liter Sauerstoff", sagt Exenberger. Sauerstoffgerät und Notfallrucksack haben die beiden dabei. Kollege Tauschek wiederholt die Angaben und hilft der Dame, die Sauerstoffmaske anzulegen. "Ich denke, es ist so", sagt Exenberger dann zur Patientin gewandt, "das Wasser in den Beinen ist anstrengend fürs Herz. Dadurch bekommen Sie schlechter Luft." Seit vier Tagen seien die Beine so, sagt die Frau. "Das können wir nicht lösen, wir bringen Sie ins Krankenhaus."

Mindestens ein Notfallsanitäter

Die Berufsrettung Wien besetzt jeden Wagen mit mindestens einem Notfallsanitäter, in diesem Team sind es beide. Der 31-jährige Exenberger ist noch höher qualifiziert, leitet daher die Einsätze. Er darf zum Beispiel eine Reihe an Medikamenten verabreichen, einen Venenzugang setzen und intubieren.

Die Sanitäter helfen der Dame auf einen rollbaren Sitz, schieben sie durchs Stiegenhaus, helfen ihr auf die Trage und schieben diese ins Rettungsauto. Ein Tablet in der Fahrerkabine zeigt an, dass die Klinik Hietzing ein Bett frei hat. "Hietzing? Da war ich, glaub ich, mal mit meiner Leukämie", sagt der 71-jährige Ehemann, der auf dem Gehsteig wartet. Eben hat er noch gemurmelt, dass das "eine Katastrophe" sei. Nun lächelt er seiner Frau zu und hält den Daumen hoch. Tür zu.

Voriges Jahr zahlte die Stadt Wien 86,5 Millionen Euro für die Rettung in Wien, wobei in diesen Kosten auch Zusatzposten wie Katastrophenvorsorge und Corona-Einsatzstab enthalten sind. Knapp ein Viertel der Rettungseinsätze in Wien erfolgte laut Berufsrettung voriges Jahr wegen einer lebensbedrohlichen Situation. Ein Sanitäter verdient monatlich 2340 Euro zuzüglich Zuschläge, ein Notfallsanitäter mindestens 2500 Euro.

Dringlichkeitsstufe drei von sieben

Während Tauschek das Auto konzentriert durch den Verkehr lenkt, fragt Exenberger die Dame hinten im Rettungswagen nach Informationen, die er später in einem Formular im Laptop ankreuzen und ans Krankenhaus schicken wird. Herzinsuffizienz, kardiale Dekompensation zum Beispiel. Er geht davon aus, dass die Patientin stationär aufgenommen wird. Dringlichkeitsstufe drei von sieben. Exenberger legt vorsorglich einen Venenzugang, was dann an die Ärzte im Spital gemeldet wird. So handhabt es die Berufsrettung Wien. Sie hat die Möglichkeit, Sanitätern Kompetenzen zu übertragen, im Vergleich zu anderen Bundesländern weit ausgereizt.

Übergabe der Patientin an die Notfallambulanz. Dann geht es mit der leeren Trage zurück zum Wagen. Sogleich wird das Fahrzeug wieder einsatzbereit gemacht: Einwegüberzug der Liege erneuern, das mobile Sauerstoffgerät auffüllen, Haltegriffe desinfizieren.

Täglich rund 1200 Notrufe

Die Zahl der Rettungseinsätze steigt seit Jahren. Das hat mit demografischen Entwicklungen, Versorgungslücken im niedergelassenen Bereich und einem gestiegenen Anspruch der Bevölkerung zu tun. Die Ausfahrtszahlen der Wiener Rettung haben sich zum Beispiel seit 2016 um 55.000 Einsätze auf 230.000 im Vorjahr erhöht. Auch die Zahl der nicht indizierten Notarztalarmierungen steigt in Österreich. Täglich gehen rund 1200 Notrufe ein.

10.40 Uhr, nächster Alarm. "90-Jährige in der Wohnung gestürzt, bewusstseinsgetrübt, Heimhilfe alarmierte Rettung", lauten die Angaben. Mit Folgetonhorn und Blaulicht geht es über belebte Kreuzungen, am Schloss Schönbrunn vorbei, in den 16. Bezirk. Fast zeitgleich trifft ein Notarzt ein. Die Angabe "bewusstseinsgetrübt" schreibt sein Kommen vor.

Im zweiten Stock öffnet eine Heimhilfe die Tür zu einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Der braune Spannteppich im Wohnzimmer wellt sich. Im Schlafzimmer stapeln sich unter dem Fensterbrett die Windelpackungen.

Mehrere ältere Hämatome

Neben dem Bett liegt eine Frau im Nachthemd auf dem Boden, eingehüllt in eine Decke. Eine Gesichtshälfte ist lila. Der Notarzt fragt, wo es wehtut. Es dauert ein wenig, bis die Situation geklärt ist. Die Dame ist sehr schwerhörig – und dement. Ein Arm schmerzt, mehrere ältere Hämatome sind sichtbar.

"Sie stürzt jede Woche", sagt die Heimhilfe seufzend. Auf dem Tisch im Wohnzimmer liegt ein Entlassungsbrief der Klinik Ottakring, datiert vom Vortag. Eigentlich müsste die Frau in ein Pflegeheim, doch sie lehne es ab, erzählt die Heimhilfe, das Organisieren ziehe sich. Sicherheitshalber wird die 90-Jährige ins Spital gefahren. Mit einer Entlassung noch am selben Tag ist zu rechnen. Wären sie früher eingetroffen, hätten Tauschek und Exenberger den Notarzt storniert.

Nach Übergabe der Patientin ans Spital ist kurz Zeit, ein Weckerl und eine Zimtschnecke vom Bäcker zu holen und ein wenig in die Sonne zu blinzeln. "Es ist schon wichtig, dass der Kollege jemand ist, mit dem man sich auch um vier Uhr Früh versteht", sagt Simon Exenberger. "Das ist das Netteste, das du je zu mir gesagt hast", antwortet Mario Tauschek lachend. Die beiden wirken wie zwei alte Schulfreunde.

Ausbildung mit gutem Ruf

Exenberger arbeitet seit neuneinhalb Jahren bei der Rettung in Wien. Vorher war er kurz beim Bundesheer. Was ihm an dem Job gefällt, ist, dass man sofort einen Effekt dessen sieht, was man tut. Kollege Mario hat es zur Rettung gezogen, weil er sich als sehr sozial empfindet. Seit eineinhalb Jahren arbeitet er in Wien, das Weiterbildungsprogramm hier zog ihn weg aus Mödling – wie so manch andere Sanitäter diverser Bundesländer. Nur wenige Frauen machen den körperlich sehr anstrengenden Job, bei der Berufsrettung Wien sind knapp acht Prozent Sanitäterinnen.

12.42 Uhr. Verkehrsunfall. Männlich, 81, Fahrrad gegen Fußgänger. Ende der Mittagspause. Mit Blaulicht geht’s zur Gumpendorfer Straße. Das Unfallopfer wartet im Beisl. Der Mann blutet an den Händen. Exenberger bittet ihn in den Rettungswagen. Tauschek reicht dem Kollegen Desinfektionsmittel und Verbandszeug. "Nehmen S’ ihn mit?", erkundigt sich draußen die Gattin. Die Antwort ist Ja. Die Hand gehört geröntgt, und auch über Schmerzen am Knie klagt der Niedergefahrene. Die Polizei hat noch ein paar Fragen an das Unfallopfer. Danach Fahrt zum AKH.

25, weiblich, Kopfverletzung

Als der Patient dort übergeben wird, ertönt bereits der nächste Alarm. 13.53 Uhr, mögliches Gewaltdelikt gegen eine 25-Jährige, weiblich, Kopfverletzung. In einer Obdachloseneinrichtung kauert eine Frau in einem dunkelgrünen Parka und will, dass alle wieder gehen. Exenberger versucht, das Vertrauen der Patientin zu gewinnen, aber sie blockt alle Versuche ab. Nicht einmal in die Pupillen leuchten lässt sie sich. Er bläut ihr ein, dass sie unbedingt ins Spital muss, wenn ihr schlecht wird.

Also Rückkehr zum Wagen, ohne Patientin. Gegen ihren Willen darf die Rettung die Frau nicht mitnehmen. Außer es handelt sich um Patienten, die selbst- oder fremdgefährdend agieren. Aber dann muss die Polizei dabei sein. Beim nächsten Patienten wird es so weit kommen.

Ringsum starren Leute

Es ist 15.08 Uhr, als MHF-4 zum Westbahnhof gerufen wird. Passanten haben die Rettung alarmiert, weil jemand in der Straßenbahnhaltestelle reglos auf dem Boden liegt. Exenberger leuchtet dem blassen Mann in die Augen. "Pupillen sehr verengt", teilt er mit. Tauschek fährt den Wagen so nah wie möglich heran. Der Patient ist größer und schwerer als die Sanitäter. Sie hieven ihn auf die Trage. Ringsum starren Leute. Ab in den Wagen.

Die Untersuchung zeigt eine geringe Sauerstoffsättigung, niedrigen Blutdruck. Der Zustand ist kritisch. Der Sanitäter vermutet Opiate oder eine Mischintoxikation. Er sucht eine Vene, um einen Zugang zu legen – und findet Einstichlöcher. Gegen die Wirkung des Gifts will er Naloxon geben. Vorsichtig. Eine halbe Ampulle. Nach drei Minuten Check der Vitalwerte. Es tut sich wenig. Exenberger entscheidet sich, die zweite Hälfte zu geben.

Die Wirkung lässt nach

Die Betäubung lässt nach. Der Patient zuckt aus – und haut ab. Die Sanitäter informieren die Polizei. Es dauert eine Weile, bis die jungen Beamten den Mann in der U-Bahn-Station festhalten können. Exenberger und Tauschek wissen, dass die Wirkung des Medikaments nach 20 Minuten nachlässt. Dann driftet der 33-Jährige wieder weg. Verschwitzt kehren die Sanitäter mit dem nun wieder reglosen Mann in den Wagen zurück, überprüfen erneut die Vitalwerte des Patienten. Mario Tauschek fordert über die Leitstelle ein Akutbett an. Diesmal reicht die Gabe von Sauerstoff, in Begleitung eines Polizisten gelangen sie ins Spital. Als der Patient der Klinik Ottakring übergeben ist, ist es schon halb fünf.

Manches wirkt länger nach

"Man muss sich schon bewusst machen, dass das, was wir erleben, nicht normal ist", sagt Exenberger. Ihm sei wichtig, stets in sich hineinzuhören, ob das Erlebte nachwirke. In der Regel könne er einen Dienst gut abhaken, sagt er. Arbeite doch etwas nach, tauschen er und Mario sich darüber aus. Zusätzlich gibt es ein Peer-Programm. Oder die Möglichkeit, zum Psychologen zu gehen. Den Einsatz am Westbahnhof werden sie nachbesprechen.

Um 17.51 Uhr erfolgt noch eine Fahrt in den siebten Bezirk. 49-Jähriger mit Herz-Rhythmus-Störungen beim Friseur, Transport in die Klinik Hietzing. Danach geht’s zurück zum Stützpunkt. 19.30 Uhr Dienstende. Umziehen, duschen, ab nach Hause. Am nächsten Tag ist wieder Tagdienst. Er wird dichter, mit etwa neun bis zehn Alarmierungen. Darauf folgen zwei Nachtdienste, darauf vier freie Tage. Da heißt es ausschlafen, abschalten, raus in die Natur. Danach geht es wieder von vorn los. (REPORTAGE: Gudrun Springer, 29.10.2022)