Brasília – Kurz vor der der Stichwahl bei der Präsidentenwahl in Brasilien scheinen alle Hemmungen zu fallen: Das Team des rechten Amtsinhabers Jair Bolsonaro vergleicht dessen linken Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva mit dem Teufel und rückt ihn in die Nähe eines mächtigen Verbrechersyndikats. Lulas Wahlkämpfer keilen zurück und stellen den Staatschef als Kannibalen und Pädophilen dar.

Lula hatte die erste Runde der Präsidentenwahl in dem größten Land in Lateinamerika am 2. Oktober überraschend knapp vor Bolsonaro gewonnen. Vor der Stichwahl am Sonntag ist das Rennen völlig offen – und beide Kandidaten kämpfen derzeit mit fast allen Mitteln um jede Stimme. Im Endspurt sind die Angriffe in einem ohnehin schon erbitterten Wahlkampf noch schmutziger geworden. Lulas Team reagiere auf Bolsonaros Taktik inzwischen mit einer ähnlichen Strategie, sagt Professor Carlos Melo von der Insper-Hochschule in São Paulo. "Es ist nur natürlich, dass in solch einem Krieg am Ende alle mitmachen."

Lula (links) und Bolsonaro geben sich im Fernsehen seriös – abseits davon ganz und gar nicht.
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Aufgeheizte Stimmung

Die Stimmung im Land ist aufgeheizt, die Bevölkerung gespalten. Die Risse gehen durch Familien, Freundesgruppen und Nachbarschaften. "Wir vermeiden das Thema Politik, um weiter gut miteinander auszukommen", sagt etwa die Bolsonaro-Anhängerin Claudia Pizarro Motta Barrozo. Als sie und ihr Sohn Diego doch einmal darüber sprechen, entsteht schnell eine hitzige Debatte. Der Lula-Wähler sagt: "Ich habe es mir zwar schon gedacht, aber ich bin jetzt wirklich schockiert zu hören, welche Positionen meine Mutter vertritt." Ihre Informationen bezieht Motta vor allem aus Whatsapp-Gruppen für Bolsonaro-Anhänger.

Auch dunkelhäutige Brasilianerinnen können Fans von Bolsonaro sein.
Foto: MAURO PIMENTEL / AFP

Soziale Medien sind in Brasilien sehr wichtig, viele Menschen beziehen ihre Informationen über Politik ausschließlich dort. In den sozialen Netzwerken geht es aber nicht um politische Ziele oder Regierungspläne der Kandidaten, sondern um Anschuldigungen und Verschwörungstheorien, um Moral, Glaube und Sex. "Die Reichweite von Fake News ist größer als die von realen Informationen, und Lügen scheinen mehr Interaktionen zu generieren als Fakten", sagt die Leiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien, Anja Czymmeck.

In São Paulo macht man sich Sorgen um die Demokratie.
Foto: NELSON ALMEIDA / AFP

Bizarre Klarstellungen

Je näher die Wahl rückt, desto heftiger wird das mediale Trommelfeuer. Gegen die Schlammschlacht im Internet wirken die TV-Debatten, in denen Bolsonaro und Lula sich mit Vorwürfen überziehen und gegenseitig als Lügner bezeichnen, schon fast gesittet. Durch die immer bizarreren Vorwürfe in den sozialen Netzwerken sieht sich Lula etwa dazu genötigt, öffentlich klarzustellen, er sei keinen Pakt mit dem Teufel eingegangen.

Bolsonaro wiederum sprach in einem Interview von der angeblichen Anziehung zwischen ihm und venezolanischen Teenagern, die er für Prostituierte hielt – es folgte ein Sturm der Entrüstung. Eigentlich wollte der rechte Staatschef wohl davor warnen, Brasilien könnte im Falle eines Wahlsiegs von Lula das gleiche Schicksal drohen wie dem sozialistischen Krisenstaat Venezuela. Doch das ging nach hinten los: Die Lula-Seite verbreitete das Video genüsslich im Internet, und Bolsonaro musste schließlich beteuern, er sei kein Pädophiler.

Bots im Dauereinsatz

Die Themen Sex, Gewalt und Gender gehören eigentlich zu den Klassikern im Waffenarsenal von Bolonaros Internettrollen. Sein Sohn Carlos orchestriert den Infokrieg in den sozialen Netzwerken und stützt sich dabei auf die Anhänger des Präsidenten, aber auch auf Bots. Die Hälfte der Retweets zur Unterstützung Bolsonaros am ersten offiziellen Wahlkampftag im August stammt von automatisierter Software, stellten Wissenschafter fest. Bei Lula waren es etwa 25 Prozent.

"Damit soll die öffentliche Meinung getäuscht werden, um bestimmte Personen zu diskreditieren oder gut dastehen zu lassen", sagt Karina Santos vom Institut für Technik und Gesellschaft in Rio de Janeiro. "Das kann sich direkt auf die Wahlentscheidung auswirken, was besorgniserregend ist." Experten befürchten, Bolsonaro könnte seine digitale Armee auch einsetzen, um das Ergebnis bei einer knappen Niederlage infrage zu stellen.

Indigene Lula-Fans.
Foto: MICHAEL DANTAS / AFP)

Schmutzige Tricks

Ex-Präsident Lula stellt sich hingegen als Retter der Demokratie dar. Den schmutzigen Teil der Wahlkampagne überlässt er seinem Mann fürs Grobe. Das Team um den Abgeordneten André Janones, der auf Instagram zwei Millionen Follower hat, streut immer wieder zum Teil jahrealte Videos, die Bolsonaro in ein schlechtes Licht rücken. Ein Video soll den Präsidenten bei den Freimaurern zeigen, in einem Ausschnitt aus einem Interview mit der New York Times erzählt Bolsonaro wiederum, er hätte 2016 fast einen Indigenen gegessen. "Ein Indigener ist gestorben, und sie kochen die Indigenen – das ist ihre Kultur", sagte der Präsident Brasiliens. Und fuhr fort: "Sie kochen ihn für zwei, drei Tage und essen ihn mit Bananen."

Er, so Bolsonaro in dem Interview, hätte den Indigenen durchaus gegessen, doch habe sich niemand aus seiner Entourage gefunden, der ihn zu dem Mahl in einer indigenen Gemeinde habe begleiten wollen.

UOL

Den wildesten Auswüchsen der Schlammschlacht im Internet will die Justiz jetzt einen Riegel vorschieben. Das Oberste Wahlgericht kann anordnen, dass soziale Netzwerke und Wahlkampfteams "Fake News" innerhalb von zwei Stunden entfernen müssen. Anhänger von Bolsonaro werten das als Angriff auf die Meinungsfreiheit und protestierten zuletzt mit zugeklebten Mündern gegen die angebliche Zensur. Doch selbst wenn einige Falschinformationen tatsächlich gelöscht werden: Kurz vor der entscheidenden Wahl in Brasilien scheint die Flut aus Hass, Verleumdung und Verschwörungstheorien im Netz nicht abzuebben. (Martina Farmbauer, dpa, wisa, 30.10.2022)