Jerry Lee Lewis in der Country Music Hall of Fame in Nashville, Tennessee. Mit 87 Jahren ist der Rock'n'Roller nun gestorben.

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Jerry Lee Lewis im Madison Square Garden, März 1975. Mit 87 Jahren ist der Rock'n'Roller nun gestorben.

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Mit 18 war er Bigamist. Mit 22 Weltstar, ein Jahr später eine Persona non grata. Nachdem während einer Tour in England bekannt geworden war, dass seine dritte Frau, Myra Gale Brown, seine Cousine und gerade erst 13 Jahre alt war, wandte sich die Welt pikiert von ihm ab. Davor hatte sie seine Songs wie "Whole Lotta Shakin' Going On", "Great Balls of Fire", "Breathless" oder "High School Confidential" willig empfangen. Das waren lüsterne Manifeste im Kleid des gerade die Welt erobernden Rock 'n' Roll, dessen verrücktester Schneider er war: Jerry Lee Lewis, den sie den Killer nannten.

Jerry Lee Lewis personifizierte den Irrsinn des Geschäfts und den Wahnwitz der Kunst. In ihm kollidierten Religion und Gottlosigkeit, gingen Frömmigkeit und Blasphemie Hand in Hand.

Classic Hits {Stereo}

Nein, es war nicht einfach Jerry Lee Lewis zu sein. Seine Karriere markierten so viele Tief- wie Höhepunkt, doch irgendwie überstand er alles. Er überlebte seine Magenprobleme, seine Drogensucht und jahrelange Wickel mit der Steuerbehörde, die ihm mehr als einmal all sein Eigentum davontrug. Doch selbst an guten Tagen erschien die Welt des Jerry Lee Lewis wie ein düsteres Versprechen. "Du kommst in den Himmel oder du fährst zur Hölle. Dazwischen gibt es nichts", zitiert ihn Nick Tosches in der Biografie "Hellfire".

Eingeschrieben hatte ihm diese Sichtweise der Bible Belt, aus dem er stammte, unten in Louisiana. Dort, wo das Gute und das Böse in Person von händeringenden Predigern um die Seelen der Menschen buhlten. Wo eine Messe erst in Fahrt kam, wenn die ersten Besucher in religiöse Ekstase verfielen. Halleluja!

Hello, Hello Baby – wenig bekannt und doch nicht weniger als ein Manifest.
Sun Records

Der am 29. September 1935 in Ferriday geborenen Jerry Lee Lewis erlag früh dem vermeintlich Bösen. Anstatt gottergeben Hymnen zu spielen, malträtierte er schon als Teenager das Klavier mit wildem Boogie, spielte sich in Rage und erwies sich als untauglich für die Schule oder geregelte Arbeit. Stattdessen verdingte er sich als Musiker in Spelunken und Clubs, die er als Gast noch gar nicht betreten durfte.

Feuer auf den Tasten

Als Künstler jedoch, da saß er bereits als Grünschnabel oben auf der Bühne und überführte eine Melange aus Country, Gospel und Blues in Boogie und Rock 'n' Roll. Jerry Lee spielte sein Klavier im Sitzen oder im Stehen, mit Füßen und Ellbogen. Er setzte es in Brand und stieß es über die Bühnenkante, er beschwor damit die Damen und den Teufel – er machte es zum Rock-'n'-Roll-Instrument.

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Doch auf der Suche nach einem Label hörte er immer wieder "Du solltest das Klavier sein lassen und dir stattdessen eine Gitarre umhängen. Dann schaffst du es vielleicht." "Du kannst dir deine Gitarre in den Arsch schieben", pflegte Lewis zu antworten.

Jerry Lee Lewis war kein Diplomat. Sein Wesen dominierte eine Mischung aus Arroganz, kaum zu erschütterndem Selbstbewusstsein und einem sagenhaften Talent. Elvis Presley, an dessen Einfahrt Jerry Lee 1976 nachts mit einem geladenen Revolver auftauchte, um zu regeln, wer die Nummer eins im Rock 'n' Roll sei, soll gesagt haben, wenn er wie Lewis Klavier spielen könnte, würde er aufhören zu singen.

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Lewis kam 1957 zu Sun Records in Memphis. Dem Label von Sam Phillips war Elvis gerade abhanden gekommen, Jerry Lee Lewis füllte die Lücke – und mehr als das.

Lewis war ein Weltstar, ein gockelhafter Südstaatenaristokrat aus dem Geschlecht der Schwarzbrenner. Tatsächlich saß sein Vater Elmo wegen dieses Delikts gerade im Gefängnis, als Jerry Lee geboren wurde. Mit den Füßen voraus soll er auf die Welt gekommen sein. Er sei auf die Welt gesprungen, sagte er später, und er habe nie damit aufgehört. Bis jetzt. Nun ist Jerry Lee Lewis, der wildeste der Rock-'n'-Roll-Pioniere, in seinem Haus in Desoto County, Mississippi, gestorben.

Ein wankender Gigant

Der Tod war ein häufiger Besucher im Leben des Pianisten und Sängers. Sein großer Bruder starb bei einem Autounfall, als Jerry Lee drei Jahre alt war. 1962 ertrank sein vierjähriger Sohn Steve Allen im hauseigenen Pool, 1973 kam sein Sohn Jerry Lee 19-jährig bei einem Autounfall ums Leben, zwei seiner sieben Frauen starben – unter teils mysteriösen Umständen.

Lewis, der Gigant, wankte. Er flüchtete lange Jahre seines Lebens in die Sucht und war unberechenbar, ein Irrer, der einmal seinem Bassisten in die Brust schoss, ohne ihn zu töten. Die Sucht hat den hageren Blondschopf selbst mehr als einmal ans den Rand des Todes geführt.

Gekränkt und süchtig

Nach dem Skandal um seine dritte Ehe mit seiner minderjährigen Cousine brach Lewis Karriere dramatisch ein. Er wurde nicht mehr im Radio gespielt, die Engagements gingen dramatisch zurück. Er tingelte er um ein paar hundert Dollar pro Abend durchs Hinterland, zuvor boten Veranstalter 10.000 Dollar für einen Auftritt des Killers. Gekränkt und auf Pille spielte er sich durch ruhmlose Nächte, hämmerte manisch auf sein Instrument ein, stets überzeugt davon, der Beste zu sein.

Lukrativer als diese Ochsentouren durch die Provinz waren die Shows in Übersee, in England, das ihm rasch wieder vergeben hatte, oder in Deutschland, wo er im Hamburger Star Club ein Livealbum eingespielt hat, das als eines der besten der Popgeschichte gilt.

Jerry Lee Lewis, Carl Perkins, Elvis und Johnny Cash: Das "Million Dollar Quartet" in den Sun Studios in den 1950ern
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Doch erst 1968 gelang ihm mit dem Countryalbum "Another Place, Another Time" wieder eine Top-Ten-Platzierung. Country sollte in den nächsten zehn Jahren ein verlässliches Standbein werden, an die 20 Hits gelangen ihm, bevor er in den 1980ern auf den Revival-Zug aufsprang und mit anderen in die Jahre gekommenen Rock-'n'-Rollern wie Carl Perkins oder dem von ihm verehrten Chuck Berry durch die Welt tourte.

Verfilmtes Leben

1989 verfilmte Jim McBride das Leben des vierfachen Vaters als schrilles Bio-Picture mit einem beeindruckenden Dennis Quaid in der Hauptrolle. Lewis liebte die Idee und hasste das Resultat. Doch der Film "Great Balls of Fire" erneuerte das Interesse an Lewis, auch in die 1990er startete er im Revival-Zirkus, mit Little Richard und Chuck Berry.

Jerry Lee Lewis war eine der schillerndsten und einflussreichsten Figuren des Rock 'n' Roll. Er war ein Prototyp des Bad Guys, der einen Lebensstil kultivierte, der keine günstige Prognose für eine hohe Lebenserwartung in Aussicht stellte. Doch Jerry Lee war zäh und ließ die Welt staunen, wie lange er durchhielt. Und wie er bis zuletzt erstaunlich gute Platten veröffentlichte. Über 70 davon hat er aufgenommen, unzählige Compilations existieren – alles untermauerte den Status der Legende. Nun hat der Tod den Killer doch noch erwischt. Der unsterbliche Jerry Lee Lewis wurde 87 Jahre alt. (Karl Fluch, 28.10.2022)