"Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ZDF Magazin Royal stellt seit Jahren unbequeme Fragen. Zum Beispiel: Muss Sebastian Kurz ins Gefängnis, beziehungsweise wie lange?" Zwar leitete der deutsche Satiriker Jan Böhmermann am Freitagabend seine Sendung so ein:

Doch dann hielt er sich nicht lange mit möglichen Zukunftsperspektiven für den österreichischen Ex-Kanzler auf, sondern wandte sich dem deutschen Verfassungsschutz zu. Nach einigen Witzchen über die Schlapphüte beim Inlands-Geheimdienst wurde es jedoch ernst. Böhmermann leakte gemeinsam mit der Plattform "FragDenStaat" jenen NSU-Bericht des hessischen Verfassungsschutzes, der eigentlich zunächst 120 Jahre, später zumindest bis 2044 hätte geheim blieben sollen. Und man kam zum Schluss: Die Akten hätten wohl deshalb unter Verschluss bleiben sollen, "weil sie ein schlechtes Licht auf den Verfassungsschutz werfen".

Terrororganisation

Es geht um ein als geheim eingestuftes Papier zu den Morden des sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU). Die rechtsextreme Terrororganisation um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt (beide begingen 2011 Selbstmord) und Beate Zschäpe, die in Haft sitzt, ermordete in den Jahren neun Männer mit Migrationshintergrund und eine deutsche Polizistin: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.

ZDF MAGAZIN ROYALE

Die politische und juristische Aufarbeitung dauerte nach dem Auffliegen des Trios im November 2011 länger als ein Jahrzehnt an. Dabei geriet auch der Verfassungsschutz in extrem schlechtes Licht. Man fragte sich: Wie konnte das Trio so lange unerkannt morden? Warum kam der Verfassungsschutz ihm nicht auf die Spur? Oder besser gefragt: Die Verfassungsschutze? Denn es gibt in Deutschland 16 Landes- und eine Bundesbehörde.

Besonderes Augenmerk fiel auf den hessischen Verfassungsschutz, dem Dienst jenes Landes also, in dem rechtsextreme Umtriebe besonders stark sind. Im hessischen Kassel erschossen die NSU-Terroristen den Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat. Rund um die Tatzeit war auch der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme am Tatort. Gegen Temme wurde zeitweise wegen Mordverdachts ermittelt. Er selbst hat immer erklärt, er habe mit der Tat nichts zu tun und habe sie auch nicht mitbekommen.

"FragDenStaat" weist noch einmal daraufhin. "Ein britisches Forscher:innenteam von Forensic Architecture hat den Vorfall minutiös nachgestellt und bezweifelt, dass Temme vom Mord nichts gehört und nichts gesehen habe."

Untersuchung eingeleitet

2012 ordnete der damalige hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) dann eine systematische Aufarbeitung der Aktenbestände an und ließ nach Fehlern in der hessischen Behörde suchen. Auf dem Abschlussbericht aus dem Jahr 2014 steht: "Die VS-Einstufung [Verschlusssache-Einstufung] endet mit Ablauf des Jahres: 2134". Also 120 Jahre später.

Hinterbliebene können nun lesen, was lange vor ihnen verborgen wurde.
Foto: imago images/Christian Mang

Dabei hatte auch Kanzlerin Angela Merkel versprochen: "Wir werden alles tun, um die Dinge aufzuklären." Als die lange Geheimhaltung bekannt wurde, gab es viel Protest, die Frist wurde im Jahr 2019, nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch den Rechtsextremisten Stephan Ernst, auf 30 Jahre "verkürzt". Immer noch viel zu lange – fanden viele, darunter auch Böhmermann und "FragDenStaat".

Nun ist der 173 Seiten lange Bericht frei zugänglich. "Um unsere Quellen zu schützen, haben wir die bis 2044 geheimen NSU Akten komplett abgetippt und ein neues Dokument erstellt, um keine digitalen Spuren zu hinterlassen", erklärt Böhmermann das Vorgehen.

Grobe Verfehlungen, unauffindbare Akten

Der Bericht offenbart laut ZDF Magazin Royale und "FragDenStaat" ein "mehr als zweifelhaftes Bild von der Arbeit des hessischen Verfassungsschutzes vor allem während der 1990er-Jahre". Zu dieser Zeit sammelte der Verfassungsschutz in Hessen zwar umfangreiche Daten, hatte aber "weder den Überblick über seinen Bestand, noch folgten aus den gesammelten Informationen stets Konsequenzen". Mehr als 500 Akten sind laut Bericht zwischenzeitlich komplett verschwunden gewesen.

Aus dem geheimen Bericht werden folgende Passagen der Selbsterkenntnis zitiert: "Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen."

Häufig seien weder Nachfragen erfolgt, noch wurde versucht, "den Sachverhalt durch ergänzende Informationen anderer Behörden zu verifizieren oder in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu bewerten".

Die Prüfer kamen zudem zur Erkenntnis: "Außerdem fielen zahlreiche Hinweise auf Waffenbesitz von Rechtsextremisten an, die zum Zeitpunkt des Informationsaufkommens in der Regel nicht bearbeitet worden waren." Da stellen Böhmermann und "FragDenStaat" entsetzt die Gegenfragen: "Ein Verfassungsschutz, der von womöglich bewaffneten Neonazis weiß und nicht eingreift? Eine Sicherheitsbehörde, die solche Hinweise nicht einmal weiter bearbeitet?"

Enttäuscht wird, wer sich in den Akten neue Erkenntnisse zum NSU erwartet hatte. Die Prüferinnen und Prüfer stellten fest: "Im Zuge der Prüfung auf eine Relevanz für das NSU-Verfahren fanden sich keine Bezüge zu den Rechtsterroristen des NSU und ihren Straf- und Gewalttaten."

Lübke-Mörder im Bericht

Was im Bericht aber auftaucht, ist der Name "Stephan Ernst", der 2019 Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen hat, weil sich der Kasseler Regierungspräsident für die Aufnahme von Geflüchteten stark gemacht hatte. 2009 hatte der Verfassungsschutz notiert, Ernst sei "als aggressiv und gewalttätig" einzustufen. Hessische Verfassungsschützer notierten auch, dass er mit einem Messer bewaffnet an Demonstrationen teilnahm und versuchte einen Sprengstoff-Anschlag durchzuführen.

Im Rahmen der Aktenprüfung für den geheimen Arbeitsbericht müssen Verfassungsschützer dies noch einmal gelesen haben. Doch 2015 wurde Ernsts Akte geschlossen, er galt für den Verfassungsschutz als "abgekühlt". Vier Jahre später hat er Walter Lübcke erschossen.

Immer wieder wurde auf Demos eine strenge Untersuchung des Falls gefordert.
Foto: imago

Die Veröffentlichung des Berichts ist nicht Böhmermanns erste investigative Recherche. Im Frühjahr hatte er öffentlich gemacht, dass der deutsche Influencer und Youtuber Fynn Kliemann Corona-Schutzmasken als "faire Masken aus Europa" verkaufte, die tatsächlich in Bangladesh und Vietnam hergestellt waren. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf. Ermittlungen gab es auch nach der letzten Sendung vor der Sommerpause. In dieser hatte Böhmermann thematisiert, dass die Polizei in manchen deutschen Bundesländern Anzeigen wegen Hasskommentaren nur schleppend bearbeitete. Und nachdem Böhmermann kürzlich die Kontakte von Arne Schönbohm, dem Chef der deutschen Cyberabwehr, nach Russland thematisiert hatte, musste dieser gehen. (Birgit Baumann aus Berlin, 29.10.2022)