70.000 Spieler spielen "Vampire Survivors" gleichzeitig.

Foto: Vampire Survivors, Steam

Vielleicht kennt ja so mancher die Situation: Der beste Kumpel hat selbst daheim im Keller seines Elternhauses in zwei Nächten ein Game programmiert und ich muss den Mist jetzt testen, nur um die Freundschaft nicht zu gefährden. Genau so fühlt sie "Vampire Survivors" beim ersten Anspielen an. Doch dann ist es plötzlich drei Uhr in der Früh und ich frage mich, wo die Zeit hingekommen ist, wo ich doch nur schnell meinen Zauberstab und die Axt aufgewertet habe. "Vampire Survivors" ist pures Dopamin, reines Glücksgefühl und mein Spiel des Jahres.

Am Anfang der Partie geht es noch gemächlich zu.
Foto: Foto: Screenshot "Vampire Survivors", DER STANDARD

Das Spielprinzip ist auf den ersten Blick völlig banal: In der Top-Down-Ansicht steuert man ein kleines Pixelmännchen per WASD-Tasten durch grafisch in ihrer Hässlichkeit schon wieder beeindruckende Pixel-Level. Wobei der Begriff "Level" schon eine Übertreibung ist: Zumindest in der ersten Mission gibt es kaum Hindernisse und die Spielfigur kann sich im Prinzip in alle Richtungen frei bewegen ohne je auf ernsthafte Hindernisse zu stoßen. Der Level besteht eigentlich nur aus einem hässlich grünen Teppich und nur vereinzelt blockiert ein Busch oder Baum den Weg. So steuert man also den Monsterjäger durch das nicht vorhandene Gemüse. Etwa einmal pro Sekunde schlägt die Figur mit ihrer Peitsche zu, völlig automatisch, einen Angriffsknopf suchen wir vergeblich. Also stelle ich mich vor eine der Riesenfledermäuse am Bildschirm, die Peitsche trifft, das Monster zerplatzt und zurück bleibt eine kleine blaue Kugel (es könnte auch ein Kristall sein, das ist schwer zu erkennen). Sammelt man diese auf, füllt sich die Erfahrungsleiste am oberen Bildschirmrand.

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Dabei kann man dem Entwicklerstudio gar nicht vorwerfen an der Technik gespart zu haben. Weil es weder ein Entwicklerteam noch Technik gibt. Luca Galante heißt das Mastermind hinter dem Ein-Mann-Projekt und eine ansprechende grafische Umsetzung war ihm wahrscheinlich völlig egal, ja nicht einmal einen richtigen Vollbildmodus oder auch nur annähernd moderne Bildschirmauflösungen unterstützt das Spiel, kein Wunder, hat die Entwicklung der Erstversion des Games auch nur etwa 1.200 Euro gekostet.

Die Genialität kommt langsam

Einige Peitschenhiebe später hat man genug Kügelchen der besiegten Gegner beisammen und steigt einen Level auf. Spätestens jetzt deutet sich an, dass in "Vampire Survivors" vielleicht doch mehr steckt, als man auf den ersten Blick vermutet. Ich bekomme nämlich eine neue Waffe und plötzlich umkreist die Spielfigur eine fliegende Bibel, die mir im Kampf gegen das flatternde Gezücht hilft, indem sie sich selbstständig durch die Gegnerhorden fräst. Denn die Widersacher tauchen plötzlich in immer größerer Zahl auf. Musste ich anfangs auf die Gegner noch zugehen, verdunkeln Fledermausschwärme den Bildschirm während Peitsche und Bibelkreisel mir nur mit Mühe das feindliche Viehzeug vom Leib halten. Endlich, noch ein Levelaufstieg und jetzt steht eine Entscheidung an: Verbessere ich die Peitsche, sodass sie auch nach hinten schlägt, will ich eine zweite Bibel um meine Spielfigur kreisen sehen oder investiere ich in eine gewaltige Axt? Oder nehme ich doch den Spinat, der meinen Schadensoutput erhöht?

Am Ende krachen Blitze, hochgezüchtete Tauben bombardieren den Gegner und Weihwasser verbrennt die Vampire.
Foto: Foto: Screenshot "Vampire Survivors", DER STANDARD

Nach und nach schaltet man so immer mächtigere Upgrades für das Arsenal frei. Insgesamt sechs Waffen und die gleiche Zahl Verbesserungen kann der Vampirjäger gleichzeitig benutzen. Ähnlich wie bei anderen Rogue-Lites wie "Hades" oder "Deathloop" ergibt sich so mit der Zeit ein Build, das mehr oder weniger effektiv ist uns die Feindeshorden vom Leib zu halten. Kombiniert man Powerups wie den Kerzenleuchter mit der Axt kann man schließlich seine Waffen weiterentwickeln und erhält so beispielsweise die Todesspirale aus fliegenden Sensen. Hier liegt die wahre Motivation von "Vampire Survivors": Die unterschiedlichen Waffenkombinationen entdecken, experimentieren und am Ende das perfekte Build zu schaffen.

Überlebt man 30 Minuten, gilt der Level als geschafft.
Foto: Vampire Survivors

Nach über 30 Stunden im Game kristallisiert sich meine Lieblingskombination aus blutiger Peitsche, dem seelenfressenden Knoblauch und den Bomben werfenden Tauben heraus, aber letztendlich muss jede Spielerin und jeder Spieler selbst herausfinden, wie man das große Ziel angeht, das da heißt: 30 Minuten überleben und den Tod in Gestalt des Vampirlord Bisconte Draculó selbst besiegen. Wobei der Kampf gegen den Oberbösewicht immer tödlich endet und das Spiel von vorne beginnt. Wie bei anderen Genrevertretern üblich, kann man zwischen den Runden mit dem im Level eingesammelten Gold permanente Upgrades kaufen oder neue Charaktere mit einzigartigen Fähigkeiten freischalten. So wird etwa der Charakter schneller, kann mehr Schaden einstecken oder sich dank eines Stücks Tiramisu selbst von den Toten zurückholen.

Der Halbgott mit Holzpfahl

Daraus entwickelt sich eine wahre Suchtspirale: Nur noch einen Run, nur noch ein paar Goldstücke, damit ich endlich das Upgrade für mehr Projektile meiner Waffen kaufen kann. Das wohlige "Nur noch eine Runde"-Gefühl stellt sich ein. Einen wahren Rush aus Glückshormonen entfaltet "Vampire Survivors" aber, wenn alle sechs Waffen weiterentwickelt sind, das Build funktioniert und sich mein Charakter mit Blitzen, Weihwasser, Messern, Peitschenhieben und Feuerbällen durch die Feindeshorden schnetzelt. Selten vermittelte ein Spiel ein derartiges Machtgefühl in so kurzer Zeit vom schwächlichen Vampirjägersgehilfen zum unbesiegbaren Kreuze werfenden und Knoblauchgestank verbreitenden Halbgott des Holzpfahles aufzusteigen.

Minimaler Spoiler: Die Jagd nach Waffenkombinationen ist die größte Motivation in "Vampire Survivors".
Foto: Screenshot "Vampire Survivors", DER STANDARD

"Vampire Survivors" ist jetzt in der Vollversion erschienen, war aber bereits in der Betaphase zuvor ein Phänomen. Anfangs war das Spiel kaum beachtet, bevor es plötzlich an Popularität zulegen konnte und Dauerhits wie "Destiny 2" oder "Death by Daylight" in absoluten Spielerzahlen überholte. Bis zu 70.000 Menschen spielen gleichzeitig "Vampire Survivors", ein Erfolg, mit dem Entwickler Galante selbst nicht gerechnet hat. Dieser hat nun seinen Job aufgegeben und widmet sich in Vollzeit der Weiterentwicklung seines Überraschungshits.

Fazit: Suchtspirale um vier Euro

Als ich den ersten Screenshot von "Vampire Survivors" gesehen habe, war ich skeptisch: Wer würde eine derartige Hässlichkeit spielen wollen? Optisch erinnert das Spiel eher an Amiga-Zeiten und selbst damals wäre das Indie-Game wohl für seine Grafik kritisiert worden. Doch davon sollte man sich auf keinen Fall täuschen lassen, denn der Ersteindruck könnte nicht weiter vom tatsächlichen Spielerlebnis entfernt sein. "Vampire Survivors" entwickelt eine Suchtspirale, wie ich sie zuletzt bei "Dead Cells" verspürt habe.

Bossgegner lassen manchmal Kisten mit Belohnungen fallen.
Foto: Foto: Screenshot "Vampire Survivors", DER STANDARD

Ich will immer noch ein Upgrade freispielen, immer noch eine Waffenkombination entdecken, immer noch einen anderen Vampirjäger ausprobieren und immer weiter am eigenen Build basteln und selbst nach über 30 Stunden im Spiel habe ich noch nicht alle Waffensynergien und Evolutions-Kombination herausgefunden. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich zuletzt ein AAA-Spiel so gefesselt hat. Für mich ist "Vampire Survivors" ganz klar das Spiel des Jahres und die wohl am besten investierten vier Euro meines Lebens. Jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss endlich herausfinden, was passiert, wenn ich das Pentagramm mit der Krone kombiniere.

"Vampire Survivors" ist am 20. Oktober 2022 offiziell auf Steam erschienen und kostet aktuell 3,99 Euro. (Peter Zellinger, 30.10.2022)