Die schlimmsten Szenen der Massenpanik von Seoul spielten sich in einer engen Gasse ab, in der sich die Menge zusammendrängte.

Foto: EPA / Jeon Heon-kyun

Endlich wieder unbeschwert! Erst vor wenigen Wochen war in Südkorea die Maskenpflicht gefallen. Halloween war für viele junge Menschen also die erste Chance seit langem, sich ins Nachtleben zu stürzen. Itaewon, das durch Schnulzen des koreanischen Films auch im Ausland bekannte Ausgehviertel der Hauptstadt Seoul, war Samstagabend zum Bersten gefüllt. Zu voll, wie sich herausstellte, als das Vergnügen sich in eine Katastrophe verwandelte. Mindestens 154 Menschen kamen bei einer Massenpanik in einer der engen, abschüssigen Gassen des Viertels ums Leben.

Das volle Ausmaß der Tragödie wurde erst am Sonntag wirklich klar. Ein Großteil der Menschen, die verstorben sind, war unter 30, auch zahlreiche Teenager sind unter den Toten. Weil Menschen unter 18 in Korea keine Ausweise bei sich tragen müssen, mussten viele von ihren Angehörigen identifiziert werden. 98 junge Frauen sind den jüngsten Zahlen nach verstorben, und 56 Männer. Unter den 26 Todesopfern, die aus dem Ausland stammen, ist auch ein Österreicher. Er war zu Besuch in Südkorea.

Österreicher verstorben

Außenminister Alexander Schallenberg, der Seoul erst vor wenigen Tagen selbst besucht hatte, drückte Angehörigen und Menschen in Südkorea sein Beileid aus. Auch sonst kam aus der ganzen Welt Anteilnahme. US-Präsident Joe Biden teilte mit, die USA würden "an der Seite" Südkoreas stehen. Für die EU kondolierte Ratspräsident Charles Michel; sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, sein Land teile den Schmerz.

Erste Fragen kamen Sonntag aber auch zum Hergang der Tragödie auf. Wie zahlreiche Fotos zeigen, war der Stadtteil zum Zeitpunkt des Unfalls bereits seit Stunden überfüllt. Berichte vom Freitag legen nahe, dass sich auch tags zuvor schon chaotische Szenen abgespielt hätten – vielfach sei unklar gewesen, wer sich etwa für Lokale anstelle, wer nur durch die Menge gehen wolle und wo welche Menschengruppen beginnen oder aufhören würden. Eine Präsenz der Polizei sei am Samstag, als sich 100.000 Feiernde in Itaewon versammelten, kaum zu bemerken gewesen, heißt es. Sicherheitskräften gelang es erst nach einiger Zeit, die Menge auseinanderzubringen.

Schwierige Fragen

Das wirft auch insofern Fragen auf, als Südkorea keineswegs unerfahren in der Austragung großer Veranstaltungen und der Kontrolle großer Mengen ist. Fast wöchentlich finden in Seoul etwa Großdemonstrationen statt, der Zugang ist streng geregelt, die Polizei mit Tausendschaften an Personal vor Ort. Innenminister Lee Sang-min nahm diese als Begründung für die relativ geringe Polizeipräsenz.

Er argumentierte, mehr Personal sei wegen der Proteste, die es tagsüber gegeben hatte, nicht verfügbar gewesen. Bei einer Pressekonferenz sagte er zudem, die Lage in Itaewon habe sich nicht maßgeblich von der in früheren Jahren unterschieden, und auch eine größere Polizeipräsenz hätte die Katastrophe wohl nicht verhindert.

Die Regierung hat jedenfalls eine gründliche Untersuchung der Katastrophe angekündigt. Man wolle die Ursache des Unfalls herausfinden und die nötigen Maßnahmen ergreifen, damit sich solch eine Tragödie nicht wiederhole, sagte Premierminister Han Duck-soo am Montag laut Berichten südkoreanischer Sender bei einer Sitzung im zentralen Hauptquartier für Katastrophenschutz.

Generation der Tragödien

Staatspräsident Yoon Suk-yeol rief am Sonntag Staatstrauer aus. Teile von Seoul wurden von Bürgermeister Oh Se-hoon, der eilig von einer Europareise zurückkehrte, zur Katastrophenzone erklärt, um schnellere Hilfe zu ermöglichen.

Für viele Koreanerinnen und Koreaner in ihren 20ern, denen Corona zuletzt Teile ihrer Jugend nahm, ist es eine von mehreren Tragödien ihrer Generation. Wirtschaftlich stehen sie wegen Jobmangels und teurer Wohnungen unter Druck, viele leben noch immer bei ihren Eltern. Als 2014 die Fähre Sewol sank und damit ein nationales Trauma auslöste, waren viele der nun Betroffenen gerade im Alter der 250 Schulkinder, die vom Schiff in die Tiefe gerissen wurden. (Manuel Escher, 30.10.2022)